Unbeirrbarer Eigenbrötler und künstlerischer Visionär: Jay Farrar ist beides. Mit den legendären Tupelo hob der 54-jährige Amerikaner einst das Alt-Country-Genre aus der Taufe, und auch mit Son Volt widmet er sich ganz dem Ergründen und Ausloten der Möglichkeiten, die traditionelle Musikformen bereithalten. Dass sich auf dem neuen Album ELECTRO MELODIER die Perspektive dennoch ein wenig verschiebt, ist nicht zuletzt der Pandemie geschuldet.
Eigentlich hatte Jay Farrar im vergangenen Jahr den 25. Bandgeburtstag Son Volts mit einer ausgiebigen Tournee feiern wollen, doch COVID-19 zwang den stets etwas unscheinbar wirkenden, aber dennoch beeindruckend konsequenten Musiker aus St. Louis zum Umdenken. Anstatt den Blick zurückschweifen zu lassen, blickte er mit neuen Liedern zwischen Folk, Country, Rock, Blues und einem Hauch von Soul nach vorn – und hatte anschließend beim Einspielen ungeahnte Freiheiten. „Für gewöhnlich haben wir für die Aufnahmen eine Woche und gleich anschließend spielen wir Konzerte, da sind die Gedanken immer nach vorn gerichtet“, verrät er. „Die Pandemie hat uns erlaubt, mehr Zeit zu investieren und die Platte Song für Song und mehr denn je als Team anzugehen.“
Außerdem half die Abgeschiedenheit des Lockdowns Farrar dabei, sein Songwriting weg von den politischen Inhalten der Vorgängerwerke zu lenken. In betont introspektiven Liedern wie ›Diamonds And Cigarettes‹, ›Lucky Ones‹ oder ›Sweet Refrain‹ thematisiert er häusliches Glück oder einfach nur den Blick aus dem Fenster, bis die eskalierende Pandemie, die Black-Lives-Matter-Proteste und die Turbulenzen um die US-Wahl dafür sorgten, dass Farrar von seinem politischen Gewissen eingeholt wurde. „Ich bin mit der Musik von Bob Dylan, Neil Young und Woody Guthrie aufgewachsen“, erklärt er. „Zu beschreiben, was um uns herum vorgeht – genau das ist für mich die Aufgabe eines Songwriters. Trotzdem ist auch die Balance wichtig, und ich denke, das ist bei diesem Album ganz gut geglückt.“
Tatsächlich ergänzt sich der persönliche Blick nach innen perfekt mit der aufrührerischen Gesellschaftskritik in Songs wie ›Living In The USA‹ oder ›The Globe‹, ist doch beides ein Spiegelbild des verrückten Jahres, das hinter uns liegt. „Wahrheit und Leidenschaft“ ist seit jeher das, was für Farrar einen guten Song ausmacht, und ELECTRO MELODIER, das wird schnell deutlich, ist voll davon. Sorge, sich damit nicht weit genug von all den Musikern abzusetzen, die sich in Pandemiezeiten mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sahen und diese nun künstlerisch verarbeiten, hatte er trotzdem nicht. „So analytisch gehe ich nicht an mein Songwriting heran“, gesteht er lachend. „Ich lasse die Dinge einfach geschehen – und hoffe das Beste!“