Im Sabbath-Kosmos liefern sie eine Steilvorlage zur Diskussion, die Jahre 1987 bis 1995. Für einige hatte diese Phase mit ihrer Lieblingsband nichts mehr zu tun, wiederum andere bewerten sie als maßlos unterschätzt. Egal, welcher Fraktion man sich anschließt, eines steht fest: Die Tony-Martin-Ära von Black Sabbath ist im kollektiven Gedächtnis nicht wirklich fest verankert. Sie versinkt zwischen übergroßen Namen wie Ozzy oder Dio, viele der damals entstandenen Alben verschwanden schnell aus den Verkaufsregalen. Umso besser, dass sie jetzt mit dem Boxset ANNO DOMINI 1989-95 – mit den remasterten Alben HEADLESS CROSS, TYR, CROSS PURPOSES und dem neu gemischten FORBIDDEN – endlich eine Würdigung erhält, die sie trotz aller Streitpunkte definitiv verdient.
„Es war der Tag, an dem die Band implodierte“, erinnerte sich Drummer Bill Ward an jenes Datum im Jahr 1979 zurück, als er Ozzy Osbourne seinen Rauswurf aus Black Sabbath erklären musste. Wer konnte da wissen, dass Wards Worte nicht nur den damaligen Ist-Zustand, sondern auch einen Teil der Zukunft beschrieben? Nachdem sich das Original-Line-Up nach erfolgs- und substanzgeschwängerten Jahren endgültig aufgelöst hatte, sah es zwar mit Ronnie James Dio und den erfolgreichen Platten HEAVEN AND HELL und MOB RULES vorerst so aus, als hätte die Band diesen Umsturz überlebt, doch nach Dios Ausstieg 1982 liest sich die Sabbath-Historie wie ein schwindelerregendes Line-Up-Karrussell. Hat man für die 15 verschiedenen Mitglieder von Deep Purple die MK-Zählweise eingeführt, so hätte man für die wechselnden Musiker bei Sabbath (u.a. Eric Singer, Bob Daisley, Vinny Appice, Bobby Rondinelli) wohl fünf Rechenschieber gebraucht, um den Überblick nicht zu verlieren.
Alleine am Mikrofon stieg Deep Purples Ian Gillan für ein Album, BORN AGAIN, ein. Glenn Hughes sang das folgende SEVENTH STAR, eigentlich als Iommi-Soloalbum gedacht, danach versuchte man es mit Ray Gillen, der jedoch während der Studiozeit für THE ETERNAL IDOL abzog, um John Sykes‘ Blue Murder zu folgen. Schließlich entschied sich Tony Iommi für Tony Martin, einen starken, doch unbekannten Sänger, welcher Gillens Spuren nochmal einsang und den Gesamtsound von Sabbath mit seiner ausgeprägten Melodic-Note beeinflusste. Fun Fact: Auch Tony Martin war kurzzeitig bei Blue Murder und hat sogar einen Song-Credit auf deren Debüt aus dem Jahr 1989. Nach dem durchwachsenen Erfolg von THE ETERNAL IDOL unterschrieb Iommi einen Deal mit I.R.S. Records, von dem er sich bessere Promotion und mehr künstlerische Freiheit erhoffte und machte sich an die Arbeiten zu jenem Album, das 1989 als HEADLESS CROSS erschien und eine kurze Phase mit etwas mehr Beständigkeit einläutete.
Mit Ausnahme einer Unterbrechung im Jahr 1992, in der Tony Martin hinausgeworfen wurde, um Platz zu machen für die in einer Enttäuschung endende, kurzzeitige Rückkehr von Dio auf DEHUMANIZER, war Martin von 1987 bis zur Reunion mit Ozzy 1997 in der Band. Schlagzeug-Legende Cozy Powell war auf HEADLESS CROSS, TYR (1990) und FORBIDDEN (1995) – bei dem man mit Body-Count-Gitarrist Ernie C als Produzent experimentierte – zu hören, während auf DEHUMANIZER Vinny Appice und auf CROSS PURPOSES (1994) Bobby Rondinelli trommelte. Neben Iommi, dem Fels in der Brandung, war Multiinstrumentalist Geoff Nicholls am Keyboard zu dieser Zeit fast konstant im Line-Up.
Soweit die kurze Übersicht über eine Bandphase, die von wenigen Höhen, vielen Tiefen und dem enormen Schatten, den der Erfolg von Ozzy Obsournes Soloprojekt warf, geprägt war. Trotz alldem wollte sich Sabbath-Konstante Tony Iommi nicht unterkriegen lassen. Im Interview erzählt der legendäre Gitarrist von dieser Phase seiner Karriere und erklärt, warum er auch in schweren Zeiten immer nach vorne blickte.
Warum hat es so lange gedauert, bis die Tony-Martin-Ära mit einem Boxset bedacht wird?
Erst haben wir das Ozzy-Line-Up gemacht, danach die Dio-Jahre und jetzt eben die Tony-Martin-Ära. Man kann sie nicht alle auf einmal veröffentlichen. Außerdem brauchte ich Zeit, um FORBIDDEN zu remixen.
Cozy Powell mochte den Drumsound von FORBIDDEN überhaupt nicht, du warst auch unzufrieden. Was war dein Hauptziel beim Remixen?
Dass es hoffentlich besser wird als vorher. (lacht) Das Problem war, dass wir nicht nur Ice-T als Vocal-Part nahmen wie abgemacht, sondern auf Vorschlag der Plattenfirma hin auch Ernie C, also Ice-Ts Gitarristen, als Produzenten. Wir probierten es aus und ließen das Ganze auf uns zukommen, doch da prallten zwei Welten aufeinander. Ernie C war ein echt netter Typ, genauso wie Ice-T, doch er kannte unseren Sound nicht wirklich. Eines der großen Probleme war, dass er Cozy erklärte, wie er seine Bassdrum spielen soll. (lacht) Das konnte nicht gut gehen. Cozy war ein echter Classic-Rock-Drummer, einer der ganz Großen. Da ist es schwierig, wenn dir jemand aus einer anderen Generation sagt, wie du spielen sollst. Cozy war gar nicht glücklich über die Situation. Am Ende des Tages mochte niemand von uns den Sound. Deswegen habe ich die Sache nochmal aufgerollt. Auf den Tapes waren viele Takes über, die damals nicht benutzt wurden. Ich habe mich dort bedient und so versucht, den Sound zu verbessern. Man muss mit dem arbeiten, was man hat und ist dabei natürlich begrenzt. Hoffentlich klingt es jetzt besser! (lacht)
Im Grunde hast du Mitte der 90er das getan, was in den letzten Jahren viele klassische Rock-Acts, wie Ozzy mit Post Malone oder Mötley Crüe mit Machine Gun Kelly, getan haben: Mit Rappern kollaboriert. Vielleicht warst du deiner Zeit 25 Jahre voraus.
Die Geschichte meines Lebens! (lacht herzlich) Es gibt ja viele Leute, die nicht einmal wissen, dass wir diese Alben veröffentlicht haben. Diese Phase wurde fast schon begraben, weil wir dann mit Ronnie und Ozzy zurückkamen, worüber mehr gesprochen wurde. Deswegen ist es jetzt an der Zeit, diese Alben in die Öffentlichkeit zu tragen. Dann dürfen die Leute selbst entscheiden, ob sie sie mögen oder nicht.
Warum war es damals so schwer für Sabbath, ein konsistentes Line-Up zu finden? Wie hat das die öffentliche Wahrnehmung der Band beeinflusst?
Es war wirklich sehr schwierig. Doch ich war immer ein Mensch, der nach vorne schaut und Dinge durchzieht. Dieser Antrieb und ein gewisser Glaube pushte mich weiter, auch, als Ronnie ging und Tony kam. Als Cozy dabei war, war es ehrlich großartig, weil ich einen Verbündeten hatte. Wir stammen beide aus derselben Generation, wir verstanden uns. Ich empfand diese Zeit als sehr aufregend. Ich finde es wichtig, Herausforderungen im Leben zu haben – und diese Zeit wurde definitiv zu einer. Wir fingen im Grunde ganz von vorne an. Wir unterschrieben bei I.R.S. Records und Miles Copeland. Er war mit Feuereifer bei der Sache. Miles meinte: ‚Du machst, was du willst. Du weißt, wie du klingen willst, welche Songs du machen willst. Meine Aufgabe ist die Business-Seite, die Vermarktung und der ganze Rest.‘ Das war toll zu hören, denn man will kein Label, das einem vorschreibt, was man zu spielen hat. Doch I.R.S. war ein kleines Label und die Promotions-Abteilung nicht sehr gut, vor allem in Amerika. In Europa lief es, aber in den Staaten wussten die Leute nicht mal, dass es uns noch gibt. Hinzu kam, dass viele Musiker kamen und gingen. Ich versuchte, ein festes Line-Up zusammenzubekommen. Mit Cozy und [Bassist] Neil Murray wurde es besser, wir tourten dann auch in dieser Besetzung.
Bevor Tony einstieg, hattet ihr Schwergewichte wie Ian Gillan oder Dio am Mikrofon. Warum hast du dich danach für einen unbekannten Sänger entschieden?
Einer meiner besten Freunde managte Tony Martin und schlug vor, es doch mal mit ihm zu probieren. Und ich dachte mir: ‚Warum nicht?‘ Er war ein großartiger Sänger, besuchte uns, sang das Album [THE ETERNAL IDOL] ein und stellte sich wirklich gut an. Mir ging es nicht darum, einen namhaften Frontmann zu holen. Ich wollte jemanden, der den Job gebacken bekommt und den wir mochten. Das Problem war: Ich warf Tony ins kalte Wasser. Der Rest der Band hatte sehr viel Erfahrung, wir alle waren um die Welt getourt, er hatte das nicht erlebt. Außerdem trat er in die Fußstapfen von sehr erfahrenen Leuten, Ozzy und Dio. Damals war mir das gar nicht so bewusst, doch heute weiß ich das sehr zu schätzen. Sich auf eine Bühne vor das Sabbath-Publikum zu stellen und es gut zu machen, muss verdammt hart gewesen sein. Ich glaube, manchmal war er richtig entmutigt. Er hat ehrlich viel durchgemacht. Wir wollten die Band damals voranbringen. Irgendwie vergaßen wir Tony dabei. Er musste sich sehr schnell einfinden, weil wir das auf eine gewisse Art von ihm erwarteten. Er hat das großartig hinbekommen und vor allem fantastisch gesungen, was für mich am wichtigsten war.
Es kann sehr schwer sein, ein Publikum zu knacken, das die Band als Art Religion sieht…
Absolut! Es war ja dasselbe, als Dio nach Ozzy einstieg. Wir mussten die Band wieder aufbauen. Doch Ronnie hatte das im Kreuz, weil er das alles schon erlebt hatte. Und wir bauten auf und bauten weiter und spielten wieder in großen Stadien. Ähnliches gilt für Gillan. Doch Tony war eben unerfahrener als die anderen.
Tony hat diese AOR-lastige, sehr melodische Art zu singen und damit den Gesamtsound der Band stark verändert …
Definitiv! Er hatte auch tolle Ideen. Tony wollte weder wie Ozzy oder Dio klingen, sondern nur wie er selbst. Und das hat funktioniert.
Wie schwer war es für euch, euren Platz in einer stark veränderten Musikwelt zu finden?
Wir standen in Konkurrenz zu einer neuen Generation an Musikern, die wir nicht kannten. Die wahrscheinlich von Sabbath gelernt hatten und dann ihr eigenes Ding daraus machten. Grunge und Thrash und all das. Es war eine harte Zeit für uns, wir hatten Schwierigkeiten, unsere Touren zusammenzubekommen. Anfangs finanzierte ich noch vieles davon selbst, doch irgendwo muss man eine Grenze ziehen. Als wir nach Amerika kamen, war das ein richtiger Schlag. Niemand kannte uns, niemand wusste, dass wir noch spielen. Das war sehr seltsam. Der Heavy Metal war an den Rand gedrängt worden. Umso erstaunlicher, dass er wieder zurückgekommen ist. (lacht)
Und dass ihr bis heute wohl Millionen von Nachwuchsbands beeinflusst!
Das ist fantastisch. Anders kann ich es nicht sagen. Ich bin sehr froh, dass wir in der Lage waren, all das zu tun und dass wir so viel Respekt dafür erhalten.
Wie schwer war es, Tony wieder in die Band zu holen, nachdem ihr ihn bei DEHUMANIZER mit Dio ersetzt habt?
Naja, man redet eben miteinander. Ich fragte ihn einfach.
Hast du dir gar nicht überlegt, einen anderen Sänger zu fragen?
Nicht wirklich. Sabbath in seiner Gesamtheit ist schon eine seltsame Existenz. Wir hatten Ozzy, dann war er raus und kam wieder zurück. Wir hatten Dio, er stieg aus und kam zurück. Tony Martin war raus und kam wieder zurück. So lief das eben.
Warum ist CROSS PURPOSES (LIVE) nicht im Boxset enthalten?
Das Problem ist, dass wir da bei einer anderen Plattenfirma waren.
War das nicht bei THE ETERNAL IDOL der Fall?
CROSS PURPOSES ist doch enthalten, oder? Ach, du meinst live. Bei solchen Angelegenheiten gibt es so viele Verträge und Abmachungen und juristische Hürden, die man überwinden muss. Man muss alles mit den verschiedenen Mitgliedern und Musikern abklären, sehr viel Arbeit, bei der auch mir manchmal der Durchblick fehlt. Deswegen habe ich ja einen Manager (lacht)
Deine beste und schlechteste Entscheidung zu dieser Zeit?
Gut war, dass wir weitergemacht haben. Der Prozess rund um FORBIDDEN war wie gesagt schwierig. Auch einige Entscheidungen bezüglich des Tourens waren schwierig. Es gab viele Höhen und Tiefen in der Historie von Sabbath, doch das gehört dazu, das macht dich stärker. Aufhören ist einfach, doch das hätte ich nie gekonnt. Es geht doch um einen tiefen Wunsch, weiterzumachen, Musik zu machen.
Selbst in den dunkelsten Zeiten hast du nie ans Aufhören gedacht?
Nein. Ich wusste immer, dass ich das tun muss. Ich ging bis an den Punkt, wo ich die Band selbst finanzierte.
Besteht auch nur im Ansatz die Möglichkeit für eine kleine Reunion von Tony und Tony?
Sag niemals nie. Das mache ich grundsätzlich nicht. Was auch immer passiert, ist toll. Ich schreibe immer noch viel, nehme auf, bin in verschiedene Projekte wie mit dem Royal Ballet oder meinem Parfüm involviert. Und ich bin sehr glücklich darüber. So funktioniert das Leben eben, du folgst ihm. Brian May und ich sprechen seit Jahren darüber, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Wir haben es bisher nicht getan, aber wir sprechen immer noch darüber. (lacht) Ich gehe bestimmt nicht mehr auf Tour, aber vielleicht werde ich mal einzelne Shows spielen. Alles ist möglich. Es gibt keine Grenzen.
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Kreuz und quer: 1989-1995
HEADLESS CROSS (1989): Tony Martins „echter“ Einstand
Personal: Tony Martin, Gesang. Tony Iommi, Gitarre. Brian May, Solo-Gitarre in ›When Death Calls‹. Cozy Powell, Schlagzeug. Geoff Nicholls, Keyboard. Laurence Cottle, Bass.
TYR (1990): Selbstproduzierte nordische Sagenwelt
Personal: Tony Martin, Gesang. Tony Iommi, Gitarre. Cozy Powell, Schlagzeug. Geoff Nicholls, Keyboard. Neil Murray, Bass.
DEHUMANIZER (1992): Ein kurzes Dio-Intermezzo
Personal: Ronnie James Dio, Gesang. Tony Iommi, Gitarre. Vinny Appice, Schlagzeug. Geoff Nicholls, Keyboard. Geezer Butler, Bass.
CROSS PURPOSES (1994): Zurück zu Tony Martin
Personal: Tony Martin, Gesang. Tony Iommi, Gitarre. Bobby Rondinelli, Schlagzeug. Geoff Nicholls, Keyboard. Geezer Butler, Bass.
FORBIDDEN (1995): Das Ernie-C-Fiasko.
Personal: Tony Martin, Gesang. Ice-T, Gast-Gesang in ›The Illusion Of Power‹. Tony Iommi, Gitarre. Cozy Powell, Schlagzeug. Geoff Nicholls, Keyboard. Neil Murray, Bass.