Die einzigartige Sechste, erweitert um Rohfassungen und frühe Versionen.
Ist dies das beste Doppelalbum aller Zeiten? Als ob es da irgendeinen Zweifel gäbe. Bis heute ist es ein wildes, unzähmbares, aber auch unbeschreibliches Mysterium. Was uns aber nicht davon abhalten soll, es zu versuchen.
Fangen wir an mit ›Custard Pie‹. Schon das dreckige Riff sprüht nur so vor berauschender Lust und weist den Weg zu einer epischen Blues-Orgie, in der nichts zählt außer dem Streben nach Glück, Genuss und Geilheit. Dass der Titel (Sahnetörtchen) ein alter Euphemismus für „Vagina“ ist und das ganze Lied ein tantrisch-shivaistischer Aufruf zum Oralsex, spricht Bände. Der schräge Funk der Rhythmussektion, so primitiv und voodoo-durchtränkt, die rassiermesserscharfen Gitarren und Plants lüsternes Geheul verdichten nur den Eindruck von wilder sexueller Begierde. Doch in Shivas Tempel wird nicht nur der Promiskuität und ungehemmtem Verlangen gehuldigt – auch das Streben nach der elementaren, grundlegenden Natur der Musik steht hier im Fokus und demonstriert einmal mehr, welche Genies hier am Werk waren. Ein furchtloser Sprung in den Wahnsinn, der folgt.
Gleich auf dem nächsten Stück ›The Rover‹ darf Jimmy Page dann demonstrieren, dass er nicht nur der unangefochtene Gitarrengott, sondern eben auch ein großartiger Arrangeur und Produzent war. Der gigantische Breakbeat am Anfang zerstört alles, was sich in den Weg stellt, worauf Bonzo seinen unvergleichlich gnadenlosen Donnerhall entfesseln darf. In seinem übernatürlichen Groove schlägt er diverse Haken, doch Stoiker John Paul Jones nagelt den Rhythmus trotzdem fast telepathisch fest. Einmal mehr bewiesen Led Zeppelin hier, dass das Unerwartete wirklich unvermeidlich war.
Zeit, wirklich die Zähne zu fletschen – ›In My Time Of Dying‹ überwältigt mit Selbstvertrauen, Entschlossenheit und Starrköpfigkeit. Elf Minuten, die alles aus dem Weg blasen, vor allem das Original von Blind Willie Johnson oder die spätere Fassung von Bob Dylan. Robert Plant macht diese frühen Einflüsse zunichte wie ein durchgedrehter Anarchist, der den Ast absägt, auf dem er sitzt. Es ist tragisch und euphorisch, ohne Kompromiss oder Widerspruch.
Weiter geht es mit dem Funk-Glam von ›Houses Of The Holy‹ und dem ähnlich gearteten ›Trampled Under Foot‹, dessen Titel (Unter dem Fuß zertrampelt) sich mal wieder auf unwiderstehliche sexuelle Versuchungen bezieht. Unterdrücktes Verlangen führt zu Krankheit, so ein weiser Spruch, und hier zeigt sich die Natur ungestüm und unzähmbar.
›Kashmir‹. Was kann man über diese Nummer noch sagen, das nicht schon gesagt wurde? Bonham beweist hier aufs Epischste, dass er der wohl beste Rock-Drummer aller Zeiten ist. Ein simpler Beat trifft auf eine seltsame Zeitsignatur, gemischt mit viel Voodoo-Magie. Ekstatisch, tranceartig – schlichtweg einer der monumentalen Eckpfeiler der Rockhistorie überhaupt.
Auf dem folgenden ›In The Light‹ ist es John Paul Jones, der sein Genie demonstrieren darf. Die Synthies am Anfang dieses keltisch-vedischen Opus sind ein Meisterwerk an Atmosphäre, dessen Groove einem den Atem verschlägt, untermalt von Pages verdrogter Unverfrorenheit.
Kurze Atempause. ›Bron-Yr-Aur‹ greift das keltisch-vedische Thema wieder auf, ist aber wunderbar fragil und melancholisch – und somit ein absolut gelungener Kontrapunkt in der Gesamtdynamik dieses Albums. Auch ›Down By The Seaside‹ führt zunächst in weniger rocklastige Gefilde, bis der Mittelteil dann doch wieder ein paar Gänge hochschaltet, doch das nächste atmosphärische Highlight ist fraglos ›Ten Years Gone‹. Unsere Helden nähern sich dem Ende ihrer Reise, Heroin und Kokain haben bereits ihre Spuren hinterlassen und sie sind des Kämpfens gegen ihre chemischen Dämonen hörbar müde. Ist es ein Wunder, dass Led Zeppelin nie wieder solche unfassbaren Höhen erklimmen würden?
›Night Flight‹, noch so ein Outtake, eine B-Seite, auf der andere Bands ganze Karrieren aufbauen würden, trabt dann wieder böswillig-beseelt voran, während ›The Wanton Song‹ weibliche Promiskuität zelebriert. Ob der mörderische Beat, das dreckige Riff, Plants kehlige, lüsterne Schreie oder das psychedelische Flowerpop-Gitarrensolo: Dies war wohl der Zenit der Band, und möglicherweise ihr einflussreichtes Stück überhaupt.
Ein bisschen New-Orleans-Vibe mit Ragtime-Geschmack gefällig? So biegen wir hier nämlich mit ›Boogie With Stu‹ auf die Zielgerade ein, bevor mit ›Black Country Woman‹ ein ganz eigener Blick auf einen geradlinigen, akustischen Country-Blues-Stampfer geworfen wird.
Das große Finale aber ist ›Sick Again‹. Das Ende, nun ist es wirklich da. Zehn Jahre beispielloser Dekadenz auf diversen Tourneen fordern ihren Tribut, während das Schicksal schon einen prophetischen Finger erhebt und auf die anstürmende Barbarenherde am Horizont zeigt: den Punk. Trotz eines kleinen Adrenalinschubs in der Mitte bleibt das Stück schwermütig und gedämpft. Und doch setzt es einen ergreifend schönen Schlusspunkt mit einer Sologitarre, viel Echo und, als düstere Vorahnung der anrollenden Lawine, die Led Zeppelin bald alt und träge aussehen lassen würde, ein über die Saiten schrammendes Plektrum – ganz à la Sex Pistols.
Nicht Mal diese wohl größte Rockband aller Zeiten hätte die Wucht der Punk-Revolution erahnen oder ihr standhalten können, das konnte allerdings niemand. Doch mit 40 Jahren Abstand wissen wir, wer den längeren Atem hatte. Das haben wir nicht zuletzt dem Led-Zep-Veteranen John Davies zu verdanken, der das Album remasterte. Gerade beim Mastering hatten wir ja in der Vergangenheit fürchterliche Fehler bei den CD-Veröffentlichungen der Band zu beklagen, doch hier ist der Klang großartig, satt, klar und so unumstößlich wie das Werk selbst. PHYSICAL GRAFFITI gilt als letzter der Zeppelin-Klassiker. Und in dieser aktuellen Version wird einmal mehr unterstrichen, warum das so ist.