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In Memoriam: Chuck Berry (1926-2017)

In Memoriam: Chuck Berry (1926-2017)

Ist es originell, einen Nachruf auf Chuck Berry mit jenem Zitat John Lennons zu eröffnen, das kürzlich jeden, aber wirklich jeden Nekrolog zierte? Vermutlich nicht. Aber wir wollen an dieser Stelle auch nicht zwanghaft originell sein, zumal es die Wahrheit durchaus verträgt, noch einmal wiederholt zu werden: „Wenn man dem Rock‘n‘Roll einen neuen Namen geben müsste, könnte man ihn Chuck Berry nennen.“ Genau so ist es. Und warum das so ist, hat vielerlei Gründe.

Die beiden wichtigsten: Anders als etwa Elvis Presley schrieb Chuck Berry seine eigenen Stücke, anders als der ebenso verdienstvolle Songwriter-Kollege Little Richard spielte er das richtige Instrument: eine elektrische Gitarre. Und in beiden Disziplinen leistete er Grundlegendes.

Blicken wir kurz zurück. Ende der 50er Jahre war die Trennung zwischen Komponist und Interpret noch der Normalfall, den Sound des „jungen Amerika“ dominierten professionelle Songwriter-Teams und Produzenten, viele von ihnen ansässig im New Yorker Brill Building. Dass dort mitunter großartige Pop-Kunst entstand, sei unbenommen, nur konnten die bisweilen arg sentimentalen Texte über ewige Liebesschwüre und untreue High-School-Casanovas eben auch furchtbar klischeebeladen ausfallen.

Chuck Berry, der seine erste Single im bereits reiferen Alter von 29 Jahren veröffentlicht hatte, wandte sich zwar ebenso ans Teenager-Publikum, schlug aber einen ganz anderen Tonfall an: realitätsnah und voller Doppeldeutigkeiten, dabei häufig augenzwinkernd bis hin zur Selbstironie. Sein „Storytelling“ entsprang weit weniger den zeitgenössischen Schlager-Konventionen, sondern war eher der Blues- und Folk-Tradition verhaftet: Geschichten über echte Menschen und ihre mitunter alltäglichen Erlebnisse. Prosa der klugen und unprätentiösen Art.

Was die Wahl der Waffe anging, agierte er erfreulich kompromisslos. Die Gefolgschaft des „Kings“ möge verzeihen, aber Elvis’ Akustikgitarre war oft nicht mehr als Staffage, die eigentliche Arbeit machte Scotty Moore oder Wer-auch-immer. Chuck Berry spielte elek­trisch, verzierte seine Rhythmusbegleitung mit allerlei Licks und brachte regelmäßig Soli unter – die Blaupause für alles, was da kommen sollte. Nicht mehr und nicht weniger. Vor allem: Er spielte seine Gibson „Electric Spanish“ wirklich und hielt sich nicht nur daran fest.

Was einen zwangsläufig zu Berry, dem Bühnenkünstler führt: zum Erfinder des „Duckwalk“, der auch gerne mal einen Spagat andeutete; zum eloquenten Unterhalter, der zwischen den Songs launige Anekdoten zum Besten gab, zum selbstbewusst charmanten Wo­­manizer, der mit rollenden Augen und wirrem Blick aber auch gerne den notorischen Tunichtgut durchscheinen ließ. Wenn Elvis, der Gottesfürchtige, Händchen halten wollte, stand Chuck Berry wohl eher der Sinn nach einem Quickie. Hinter der Bühne. Vor der Ehe.

„Wenn man dem Rock‘n‘Roll einen neuen Namen geben müsste, könnte man ihn Chuck Berry nennen.“

John Lennon

Charles Edward Anderson Berry, geboren 1926 in St. Louis, Missouri, kam aus gutem Hause, wie man zu sagen pflegt. Der Vater, Dekan der örtlichen Baptistengemeinde, und die Mutter, Leiterin einer Grundschule, dürften mit dem jungen Chuck allerdings kein ganz leichtes Spiel gehabt haben. Mit 18 Jahren fuhr er nach Raubüberfall und anschließendem Autodiebstahl in den Jugendknast ein, 1947, also mit 21, kam er wieder frei. Im Februar 1962 saß er für weitere eineinhalb Jahre im Ge­­fängnis, nachdem er – angeblich – Sex mit einer 14-jährigen Kellnerin gehabt haben soll, die in seinem Nachtclub arbeitete. Was tatsächlich passiert war, lässt sich kaum rekapitulieren, schon damals wurden Vorwürfe laut, eine tendenziell rassistische Justiz hätte an diesem Idol der – nicht nur! – schwarzen Jugend ein Exempel statuieren wollen.

Als Berry 1963 wieder auf freien Fuß kam, hatte sich die Musikwelt jedenfalls grundlegend verändert. Nach ›Promised Land‹ im Jahr 1964 brach seine Hit-Serie erst einmal ab, die Jugend der Welt schielte jetzt nach Liverpool und London. Berry konnte es – kommerziell betrachtet – sicherlich verschmerzen, denn der britische Nachwuchs nahm immerhin Klassiker der Sorte ›Around And Around‹, ›Roll Over Beethoven‹, ›Carol‹, ›Too Much Monkey Business‹ und ›Rock And Roll Music‹ auf, was die Tantiemen vermutlich kräftig sprudeln ließ und dem knapp 40-Jährigen ein komfortables Leben ermöglichte. Erst 1972 gelang dem unentwegt durch die Lande tourenden Veteranen im Zuge des damaligen Rock‘n‘Roll-Revivals ein letzter Nummer-1-Hit: ›My Ding-A-Ling‹.

In den Folgejahren avancierte er dann zur lebenden Legende, zum Übervater, gepriesen von Meinungsführern wie John Lennon, Bob Dylan und Bruce Springsteen. 1979 spielte er auf Bitten Jimmy Carters im Weißen Haus, die 1986 frisch ins Leben gerufene „Rock And Roll Hall Of Fame“ hieß ihn gleich im ersten Jahr willkommen, ein an sich andere Prioritäten setzender Künstler wie Carlos Santana, bekanntlich eher Latin-Rock-Jazz-Schöngeist als derbe Rock-Sau, integrierte Berry-Songs in sein Live-Set, und als 1987 der Film „Hail! Hail! Rock‘n‘Roll“ in die Kinos kam, wurden etwaige Zweifel an der Hierarchie endgültig ausgeräumt: Chuck Berry war der Alpha-Rüde, der selbst Großkaliber der Sorte Keith Richards und Eric Clapton wie Welpen aussehen lassen konnte. Auch in fortgeschrittenem Alter gab der Großmeister regelmäßig Konzerte, häufig in eher exklusivem Ambiente und meistens ohne feste Begleitband, sondern mit vor Ort zusammengestellten Musikern. Unabhängigkeit war ihm zeitlebens enorm wichtig. Nach 38 Jahren Pause entstand in den letzten Monaten sogar ein neues Studioalbum mit vornehmlich neuem Material. CHUCK wird im Juni erscheinen, auf ›Big Boys‹, der neuen Single, ist Gast-Gitarrist Tom Morello zu hören.

2017 ist Chuck Berry im Alter von 90 Jahren verstorben, in Wentzville, Missouri, nicht weit entfernt von seiner Heimatstadt St. Louis. Dass seine Musik den Planeten verändert hat, steht außer Frage, dass sie noch Generationen nach ihm und uns gehört werden wird, ist zumindest sehr wahrscheinlich. Und irgendwann, in vielen zehntausend Jahren, werden die Raumsonden „Voyager 1“ und „Voyager 2“, gestartet im Jahr 1977, vielleicht auf Leben treffen, das intelligent genug ist, die einst von Wissenschaftlern zusammengestellten „Golden Re­­cords“ zu entschlüsseln. Die beiden Menschheitsgrüße in Richtung unendliche Weiten enthalten auch einen Song aus dem Themenbereich „Rockmusik“. Geschrieben von Chuck Berry, erstmals veröffentlicht am 31. März 1958 auf Chess Records. Sein Titel: ›Johnny B. Goode‹. Gute Wahl.

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