Offiziell war es „The Aerosmith Express Tour“ – doch die leidgeplagte Crew der Band nannte sie die „Lick The Boots That Kick You Tour“. Sie dauerte von Juni bis Oktober und begann und endete in den USA, mit einigen Europaterminen dazwischen. Jack Douglas blieb in dieser Zeit beschäftigt: Er zeichnete einige der Konzerte für ein Live-Album auf und leitete während der Tourneepausen die letzten Sessions zu DRAW THE LINE in den Record Plant Studios in New York. Dort setzte Tyler die kümmerlichen Reste seiner Disziplin ein, um die Texte fertigzustellen und seine Vocal-Spuren einzusingen.
Im August endete ihr Auftritt auf dem Lorelei Festival frühzeitig, als Tyler nach nur drei Songs umkippte, doch beim Reading Festival war die Band in Form und begeisterte das regendurchtränkte, schlammverkrustete Publikum. Während dieser Tage in Großbritannien nahm Perry auch in den AIR Studios von Beatles-Produzent George Martin in London seine Soli für das Titelstück des neuen Albums auf. Bei dieser Gelegenheit spielte er mit echter Leidenschaft, während sein neuer Freund, Queen-Gitarrist Brian May, zusah.
Im Oktober waren Aerosmith wieder in ihrer Heimat und es kam bei einem Auftritt im Philadelphia Spectrum zu einer weiteren Beinahe-Katastrophe. 17.000 Fans waren in aggressiver Feierlaune und einer von ihnen warf einen M-80-Feuerwerkskörper auf die Bühne. Die ohrenbetäubende Explosion ließ Tyler mit einer verbrannten Augenhornhaut und Perry mit einer geplatzten Arterie in seiner rechten Hand zurück. Whitford sagte: „Steven hätte blind werden können.“ Wenig später im selben Monat legten Tyler und Perry im The Record Plant letzte Hand an DRAW THE LINE an und hatten erneut großes Glück. Am 20. Oktober stürzte ein Flugzeug mit den Southern-Rockern Lynyrd Skynyrd an Bord in der Nähe von Gillsburg, Mississippi ab. Sechs der Passagiere kamen dabei ums Leben, darunter Sänger Ronnie Van Zant und Gitarrist Steve Gaines. Wenige Monate zuvor war dieses Flugzeug, eine Convair CV-240, auch Aerosmith angeboten worden, doch deren Flug-Koordinator hatte es als unsicher abgelehnt.
Was mit Lynyrd Skynyrd passierte, hatte tiefe Auswirkungen auf die Mitglieder von Aerosmith. Joe Perry sagte: „Es war eine furchtbare Tragödie und wir wussten, dass wir großes Glück gehabt hatten. So nah an der Sache zu sein, außerdem kannten wir die Jungs…das war ein echter Tiefschlag.“ Doch unmittelbar danach, nur wenige Tage nach der Katastrophe, setzten Aerosmith ihre Tournee fort. Die Konzerte waren ausverkauft, doch die erste Single vom neuen Album, das Titelstück, floppte. „Es erreichte nicht mal die Top 40“, sagte Tyler. „Und das sollte ein riesiges Album für uns werden, der große Nachfolger zu unseren besten Platten.“
Ein turbulentes Jahr für die Band endete mit der Veröffentlichung des Albums am 9. Dezember. Und nicht nur Tyler wusste, wie wichtig es war, sondern auch Douglas. Er erklärte: „Wir brauchten sechs Monate und eine halbe Million Dollar, um diese Platte zu machen.“
Die Nachfrage nach einem neuen Aerosmith-Werk war riesig und die Verkäufe von DRAW THE LINE gingen sofort durch die Decke. Columbia Records war nur an Profiten interessiert und laut Douglas war dies „der schnellste Seller, den das Label je gehabt hatte.“ Doch im Januar 1978 erreichte das Album mit Platz 11 seine Spitzenposition in den USA – eine große Enttäuschung, nachdem der Vorgänger ROCKS bis auf Platz 3 vorgestoßen war. Eine Rezension im „Rolling Stone“ zu DRAW THE LINE war so bissig wie akkurat: „Chaotisch, beinahe funktionsunfähig, mit einem undurchdringlich dichten Klang, der die Sache noch verwirrender macht… Dieses Album zeigt die Band in einem Schockzustand.“ Ohne Gnade wurde DRAW THE LINE hier als „eine wahrhaft entsetzliche Platte“ gebrandmarkt. Doch die Wahrheit war nicht ganz so eindeutig.
Natürlich konnte dieses Album nicht mit seinen Vorgängern mithalten, den beiden Karrierehöhepunkten TOYS IN THE ATTIC und ROCKS. Doch das Titelstück glänzte mit einer kraftvollen Intensität, einem kokaingetränkten Wahnsinn, ebenso wie das von Perry gesungene ›Bright Light Fright‹, das laut ihm von der „Energie“ der Sex Pistols inspiriert gewesen sei – immerhin ein Beweis, dass ein Einfluss von außen durch diesen Drogennebel dringen konnte. ›Kings And Queens‹ hatte durchaus Tiefgang, ein seltsamer, wuchtiger Trip, in dem Tyler über antike europäische Geschichte, Guillotinen und Wikinger sang – definitiv kein ›Walk This Way‹.
Der beste Song ›I Wanna Know Why‹ bewies unterdessen, dass Aerosmith immer noch verdammt cool klingen konnten, selbst wenn Tyler und Perry alles scheißegal war. Und auch wenn ihre Interpretation von ›Milk Cow Blues‹ – ein Stück aus den 30ern des Bluesers Kokomo Arnold, das in den 50ern auch von Elvis Presley aufgenommen wurde – nur entstand, weil sie nicht genug eigenes Material hatten, hatte sie doch richtig Swing und schien nach Elvis‘ Tod am 16. August 1977 auch passend.
Was DRAW THE LINE fehlte, war etwas, das der Schönheit von Songs wie ›Uncle Salty‹ und ›You See Me Crying‹ von TOYS IN THE ATTIC oder der Ballade ›Home Tonight‹ von ROCKS auch nur nahe kam. Dieses Album war aus dem Exzess entstanden und bestand nur aus scharfen Kanten. Die einzige Leichtigkeit fand sich in der Illustration auf dem Cover, ein Porträt der Band vom Karikaturisten Al Hirschfeld. Jack Douglas: „DRAW THE LINE ist ein klassischer Titel, der alles sagt – die Koks-Lines, Heroin-Lines, symbolische Grenzen ziehen, die dann überschritten werden, egal was.“