Dass Aerosmith den harten Drogen zugetan waren, vor allem Tyler und Perry, war da schon längst kein Geheimnis mehr. „Die Presse fing an, Joe und Steven als ‚The Toxic Twins‘ zu bezeichnen“, so Tom Hamilton. „Wir fingen an, Gerüchte über unsere Auflösung zu hören, als nach außen drang, wie verrückt die Dinge waren.“ Doch was außerhalb des innersten Bekanntenkreises der Band niemand wusste, war, welch krankes kleines Drama sich im Privatleben von Tyler und Perry abspielte.
Perry und seine Frau Elyssa waren eng befreundet mit David Johansen, dem Sänger der New York Dolls, und dessen Frau Cyrinda Foxe, Model, Schauspielerin und Protégée von Andy Warhol. Johansen hatte sogar am Song ›Sight For Sore Eyes‹ auf DRAW THE LINE mitgeschrieben. Als ans Licht kam, dass Tyler und Cyrinda eine Affäre hatten, war Elyssa tief beschämt: „Ich fühlte mich wie ein Idiot“, sagte sie. „David war ein guter Freund.“ Ihre schlimmsten Befürchtungen wurden bestätigt, als Cyrinda Johansen für Tyler verließ und dann bekanntgab, dass sie schwanger war.
Das Verhältnis zwischen dem Sänger und dem Gitarristen verschlechterte sich zusehends, und der Nonstop-Drogenkonsum ließ die Spannungen weiter eskalieren. Aerosmith-Manager David Krebs ließ sich 1978 eine einfache Strategie einfallen, um die Band irgendwie zusammenzuhalten. Er erklärte: „Wir hatten den Gipfel erreicht, aber die Band starb. Ich wollte ihnen Zeit geben, ihre Probleme zu lösen. Also machten wir diese Riesenevents. So verbrachte die Band den Großteil des Jahres, als Headliner auf zehn großen Festivals.“
Eines davon war am 18. März, der California Jam II in Ontario, 50 Kilometer von Los Angeles entfernt. Hier waren Aerosmith vor 350.000 Menschen die Headliner eines Line-ups, das auch Ted Nugent, Foreigner, Heart und Santana umfasste. Und auf dieser Reise nach Kalifornien ergab sich die Gelegenheit für diese Band aus Beatles-Fans, mit George Martin zusammenzuarbeiten, dem Mann, der als „fünfter Beatle“ bekannt war.
Er produzierte gerade den Soundtrack zum Film „Sgt. Pepper‘s Lonely Hearts Club Band“, eine Musical-Komödie, die lose auf dem berühmtesten Beatles-Werk basierte. Vor der Kamera standen u.a. die Bee Gees und Peter Frampton, die Idee kam von Robert Stigwood, dem Manager der Bee Gees, der schon der Kopf hinter den Blockbustern „Saturday Night Fever“ und „Grease“ gewesen war. Im „Sgt. Pepper“-Film sangen diverse Stars die Beatles-Songs, etwa die Gibb-Brüder, Frampton, Alice Cooper und die Komiker Frankie Howerd und Steve Martin. Aerosmith hatten einen kleinen Gastauftritt als stereotypisch besetzte „Future Villain Band“ und spielten eine rockige Version des funkigsten Fab-Four-Tracks: ›Come Together‹. Sie nahmen ihn in nur zwei Takes mit Martin auf. Sowohl der Film als auch der Soundtrack floppten, doch Aerosmith landeten mit ›Come Together‹ im September einen Top-30-Hit – der Monat, in dem Tyler und Cyrinda heirateten.
Den ganzen Sommer spielten Aerosmith mehr dieser Riesenfestivals. Am 4. Juli, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, waren sie erneut die Headliner, diesmal vor 100.000 Menschen beim Texxas World Music Festival in der Dallas Cottonbowl. Ted Nugent und Heart waren ebenfalls wieder dabei, außerdem auch Journey und Eddie Money. Dazu spielten sie unter dem Decknamen Dr. J. Jones And The Interns ein paar kleine Clubshows, die Jack Douglas für das Live-Album aufzeichnete, das am 27. Oktober erschien. Sie nannten es LIVE! BOOTLEG, was andeutete, dass es schon konzeptuell ein Gegenstück zu Peter Framptons hochglanzpoliertem Megaseller FRAMPTON COMES ALIVE! sein sollte.
Was Aerosmith mit LIVE! BOOTLEG abgeliefert hatten, brachte Slash auf den Punkt, der gerade mal 13 war, als es erschien: „Für mich war das ihr großes Ding. LIVE! BOOTLEG ist eines der unterschätztesten Alben aller Zeiten und eines der besten Rock‘n‘Roll-Live-Alben, die je gemacht wurden. Für mich war das der Anfang der Angewohnheit, neue Bands zu entdecken, indem ich mir ihre Live-Mitschnitte kaufte, denn so bekam ich all ihre besten Songs und das ganze Live-Ding war für mich das Aufregendste auf der Welt. Wie LIVE! BOOTLEG mit ›Back In The Saddle‹ anfängt, das ganze Intro, bei dem das Publikum ausflippt und die Pyros hochgehen, dieser ganze Spannungsaufbau, das war für mich der Wahnsinn.“
LIVE! BOOTLEG war ein Triumph, doch einen Monat nach dessen Erscheinen, als die Band wieder auf Tour war, brachte ein schockierender Vorfall in einem Hotel in Chicago Tyler und Perry dem Zusammenbruch nochmals näher. Ein Streit zwischen Elyssa und der im achten Monat schwangeren Cyrinda eskalierte zu einer Handgreiflichkeit, bei der Elyssa Cyrinda angeblich in den Bauch trat. Brad Whitfords Frau Karen war dabei und beschrieb es später als „eine sehr hässliche Szene. Das Verhältnis zwischen Steve und Tyler verschlechterte sich sofort, wie man sich vorstellen kann.“ Cyrindas Schwangerschaft wurde jedoch zum Glück nicht davon beeinträchtigt, und am 22. Dezember brachte sie eine gesunde Tochter zur Welt, die Mia getauft wurde. Für die Band jedoch schien das Ende besiegelt zu sein.
Im Januar 1979 erreichte LIVE! BOOTLEG Platz 13 in den Billboard-Charts, doch der „Rolling Stone“ feuerte eine weitere Spitze ab: „Aerosmith sind ein Dinosaurier unter den Bands, die Letzten einer Generation von Rock‘n‘Rollern, die von glattpolierteren Konkurrenten wie Boston, Foreigner und Fleetwood Mac verdrängt wird“, proklamierte das Magazin.
Doch es war nicht diese neue Gattung von AOR-Bands, die Aerosmith das Leben schwer machte. Ebensowenig die Ankunft von Punk oder New Wave. Sie fügten sich selbst den schwersten Schaden zu, zerstörten sich selbst – mit Drogen und Alkohol, mit der Feindschaft zwischen ihren Frauen, die im Wesentlichen ein Stellvertreterkrieg zwischen den Jungs selbst war. Tyler und Perry waren immer die Achse gewesen, um die sich die Band gedreht hatte, doch diese Verbindung war im Sommer 1979 zusammengebrochen.
In den Monaten davor hatte die Band noch einigermaßen funktioniert. Sie spielten immer noch die großen Shows – am 7. April als Headliner beim California Music Festival im Memorial Coliseum in Los Angeles. Wiederum mit Ted Nugent, dazu Van Halen und Cheap Trick, und 100.000 Karten waren verkauft worden. Im Mai begann die Arbeit an einem neuen Album, doch bei einem weiteren prestigeträchtigen Event am 28. Juli, dem World Series Of Rock Festival im Cleveland Stadium, platzte die Bombe.