Letzteres Album gilt sogar als größter Flop der Bandgeschichte – kreativ, aber auch kommerziell. Die Deftones konnten nur 250.000 Exemplare in den USA absetzen, das entspricht lediglich 20 Prozent der WHITE PONY-Verkäufe. Daran will Chino natürlich nicht gerne erinnert werden, doch zumindest scheint er aus der Niederlage seine persönlichen Lehren gezogen zu haben: „Es kann gut sein, dass ich kein einfacher Mensch bin und mit meiner Art etlichen Leuten vor den Kopf gestoßen habe. Aber vielleicht sollten sich einige, die mir vorwerfen, dass ich arrogant, launisch oder was-auch-immer wäre, zunächst einmal fragen, warum ich so reagiere. Denn dafür gibt es eine ganz simple Erklärung: Ich war mit dem Erfolg dieser Band oft überfordert und wusste mir nicht anders zu helfen, als mich zu verstecken – entweder hinter den anderen in der Band oder eben hinter zynischen Antworten. Nur: Das hat sich mittlerweile gelegt, weil ich heute besser mit mir und meiner Umgebung klar komme.“
Einen Beitrag dazu leistet auch das Ende der einstigen Grabenkämpfe mit Stephen Carpenter. Früher haben sich Chino und sein Gitarrist über die stilistische Ausrichtung des Quintetts gestritten, doch nun herrscht ein neues, harmonisches Wir-Gefühl. Dafür gibt es einen extrem traurigen Grund, nämlich den schweren Autounfall von Chi Cheng vom 4. November 2008 in Santa Clara. Der Bassist erlitt dabei Gehirnverletzungen nebst inneren Blutungen und liegt auch jetzt noch, also gut anderthalb Jahre später, im Wachkoma. „Er schaut dich teilnahmslos an und zeigt überhaupt keine Reaktion – auf gar nichts. Er spricht nicht, er kann nicht aufstehen, nicht alleine essen. Er vegetiert quasi vor sich hin. Es ist einfach nur schrecklich“, konstatiert Chino mit ehrlicher Betroffenheit. „Außerdem ist sein aktueller Zustand mit einem riesigen Kostenapparat verbunden, denn er muss rund um die Uhr betreut werden und hat mehrere Operationen hinter sich. Seine Versicherung deckt das nicht ab, und seine Familie hat keine Möglichkeit, die Behandlung zu finanzieren. Deshalb haben wir Ende 2009 mehrere Benefizkonzerte gegeben und versuchen jetzt, ihn mit Hilfe eines Spezialisten zurück in die Realität zu holen. Es handelt sich um einen Arzt von der Ostküste, dessen Erfolgsquote bei 75 Prozent liegt.“
Denn dass sich die Deftones ihren 39-jährigen Bassisten, Dichter und überzeugten Anarchisten möglichst schnell wieder in der Band zurückwünschen, ist kein Geheimnis – selbst wenn sie in Sergio Vega (Ex-Quicksand) einen würdigen Ersatz gefunden haben, der sie zu zwei wichtigen Entscheidungen inspirierte: 1. Ein fertiges Album namens EROS zu verwerfen, das 2007/2008 unter der Regie von Terry Date entstand. Und 2. ein komplett neues anzugehen, das sich – so Chino – grundlegend vom ersten Versuch unterscheidet: „Das, was wir mit Chi aufgenommen haben, entspricht nicht mehr dem, wie wir heute denken und fühlen. Es war ein rabenschwarzes, knüppelhartes und extrem aggressives Werk, auf dem wir uns richtig ausgekotzt haben. Nur: Nach allem, was passiert ist, erschien uns das unpassend. Wir brauchten etwas Melodisches und Fröhliches. Etwas, das uns tröstet, uns neuen Mut und neue Hoffnung gibt. Deshalb haben wir EROS auf Eis gelegt, wieder bei Null angefangen und Songs geschrieben, die unserem aktuellen Gemütszustand entsprechen.“
Der, wenn man ihn an der Musik misst, ein ähnlicher zu sein scheint wie Ende 1999, als die Band WHITE PONY komponierte. Schließlich sind die Parallelen unüberhörbar: Angefangen bei derselben Art von Fantasy-Texten, in denen es Diamanten regnet, erotische Tagträume mit allerlei Fetischen ausgelebt werden, Serienkiller ihr tiefstes Inneres offenbaren oder Chino – auf gewohnt kryptische Weise – seine Gefühle gegenüber einem alten Freund aka Chi darlegt: „Let me light you up, I’m on your team“ (›Royal‹). Hinzu kommt ein Sound, der sich eben nicht auf ein knüppelhartes Extrem versteift, sondern geradezu fließend zwischen fulminanten Stakkato-Riffs, wütenden Noise-Attacken und verträumten cineastischen Breitwand-Schwelgereien pendelt. Eine „Wall Of Wohlklang“, mitten in einem dynamischen Wechselspiel aus laut und leise, ultrabrutal und hochmelodisch.
Was im Übrigen genau das ist, was Millionen von Deftones-Fans seit Jahren schmerzlich vermissen. Jetzt schütteln es sich die Fünf einfach so aus dem Ärmel, als wäre es immer in ihnen und nur irgendwie blockiert gewesen bis zu jenem tragischen Unfall. Womit sich einmal mehr zeigt: Großer Schmerz kann sehr wohl eine positive, heilbringende Wirkung haben. Hoffentlich auch bei Chi, dem dieses Werk ganz bestimmt gefallen würde.