In den Anfangstagen der Beatles wurde er übersehen, doch dann wurde er als einer der großen Stilisten neu bewertet.
Aus CLASSIC ROCK #100
Als „der stille Beatle“ war George Harrison immer die Geheimwaffe der Band. Lennon und McCartney schrieben die meisten der Fab-Four-Hits und sangen sich in unsere Herzen, doch es war der mürrische George, der den Songs ihre transzendentalen Gitarrenmomente verlieh. Etwa die geschmeidige Eleganz seines Solos auf ›Till There Was You‹, seine Double Stops im Stil von Carl Perkins auf ›All My Loving‹ oder das wehklagende Klingeln seiner zwölfsaitigen Rickenbacker auf allem von ›A Hard Day’s Night‹ bis zu ›If I Needed Someone‹. Selbst ohne eine Gitarre konnte er zaubern. Was wäre ›Norwegian Wood‹ von 1965 ohne seine lysergischen Sitarläufe, die sehnig unter Lennons Geschichte von einem Seitensprung summten, die kommende Psychedelic-Ära einläuteten und so die Nachfrage nach Sitarspielern bei Pop-Aufnahmesessions explodieren ließen.
1966 stand er jedoch im Schatten seiner auffälligeren Zeitgenossen. Er konnte nicht schillern wie Beck, war kein Bluesvirtuose wie Clapton und hatte nicht die außerirdische Sexgott-Aura von Hendrix. In jenem Herbst tat er dann etwas Unvorstellbares: Er gab die Gitarre auf, um bei Ravi Shankar die Sitar zu studieren. Ab da bis zum Sommer 1968 nahm er nur eine Gitarre in die Hand, wenn es für Aufnahmesessions der Beatles nötig war. Die Sitar zu spielen veränderte auch den Gitarristen in ihm. Die schwierige Technik lehrte ihn, seine Fret-Hand zu verlangsamen, stärkeres Bending der Saiten anzuwenden und den Quell seines instinktiven Melodiegespürs anzuzapfen. Als er im Juni 1968 zur Gitarre zurückkehrte, nachdem er beschlossen hatte, zu alt für das Meistern der Sitar zu sein, war er ein völlig anderer Spieler. Seine Arbeit an den Frets war kräftiger, seine Läufe härter und sein Ton schneidender. Das lag zum Teil an Lucy, der kirschroten Gibson Les Paul von 1957, die ihm sein Kumpel Clapton geschenkt hatte.
Doch es lag auch an den Fähigkeiten, die er während seiner Sitar-Auszeit perfektioniert hatte. Als er sich dann Anfang 1969 seine flüssige Slide-Technik von einem jungen Country-Gitarristen namens Delaney Bramlett abgeschaut hatte, war George Harrison, der Gitarrenheld, angekommen. 50 Jahre später bleibt er der Lieblingsgitarrist von mehr auf Melodie fokussierten Spielern wie Johnny Marr, John Frusciante und Dave Grohl. Letzterer zollte Harrisons Slide-Stil auf ›Oh, George‹ vom Debütalbum der Foo Fighters Tribut. „Er war immer mein Liebling“, so Grohl, „und wird es auch immer bleiben.“ (Text: Chris Scapelleti)
Anspieltipp: ›Octopus’s Garden‹ (The Beatles, ABBEY ROAD, 1969)