Deine Liebe zu Folk hatte einen sehr starken Einfluss auf frühe Tull-Platten. Über die Jahre hast du auch mit diversen Folk-Künstlern wie Steeleye Span zusammengearbeitet …
In den 70ern waren Tull sehr gut mit Roy Harper befreundet, genau wie Led Zeppelin und Pink Floyd auch. Ich mochte Roy, weil er ein Irrer war, dessen ganze Bühnenperson darauf basierte, komplett drüber zu sein. Roy war ein großartiger Mann mit Ideen und Texten, die abseits des Mainstream lagen. Er sang sanfte und berührende Liebeslieder und dann wieder mutiges Zeug wie ›I Hate The White Man‹. Das verschaffte mir das Selbstbewusstsein, auch solche Emotionen rauszulassen und in meine eigene Musik einzuflechten.
Euer viertes Album, AQUALUNG von 1971, wurde zum Verkaufsschlager eurer Karriere. Ein Rock-Klassiker.
AQUALUNG ist ein Album voller Kontraste. Da waren die bombastischen Rocksongs wie ›Locomotive Breath‹ und ›Aqualung‹ drauf, aber auch das ganze Singer/Songwriter-Zeug. Manche der Tracks habe ich alleine mit einer Akustikgitarre im Studio eingespielt. Das war ja nicht wirklich Folk, sondern Akustik-Musik, zu der die Band noch andere Komponenten hinzufügte. Damals verkaufte sich die Platte ganz okay, besser als die Vorgänger. Es war nicht sofort ein großer Seller, aber verkaufte sich eben über sehr lange Zeit einfach immer weiter. Als ich zum letzten Mal nachgesehen habe, waren wir bei 12 Millionen Verkäufen. Ziemlich groß.
Ist es dein Meisterwerk?
Klar sind da Lieder drauf, von denen ich wirklich froh bin, dass sie in meinem Repertoire auftauchen. ›Aqualung‹, ›My God‹ und einige der Akustiknummern sind etwas eigentümlicher und persönlicher.
Was ich an der Platte jedoch noch nie mochte: das verdammt schreckliche Cover-Artwork.
Warum das?
Bei der abgebildeten Person handelt es sich um einen Obdachlosen. Meine erste Frau hatte Fotografie studiert und dabei einige Obdachlose fotografiert. Daher nahm ich damals die Idee zum Song ›Aqualung‹. Viele der Lieder, die ich geschrieben habe, entstammen einer Erinnerung oder einem Bild. Vor allem letzteres ist wohl eine Begebenheit, die ich mit vielen britischen Musikern teile, die ebenfalls auf die Kunstschule gingen. Aber als der Künstler Burton Silverman dieses Gemälde eines Obdachlosen ablieferte …
… ähnelte es dir sehr.
Ich betone das immer wieder ausdrücklich: Ich bin nicht dieser Charakter. Ich bin keine obdachlose Person. Ich bin ein pickliges englisches Kind aus der Mittelklasse. Ich musste nie auf der Straße schlafen und ich möchte auch nicht so tun, als hätte ich jemals durch so etwas gehen müssen. Unser Manager Terry Ellis hatte Silverman wohl auf ein Wörtchen zur Seite genommen und gemeint, er solle es mehr nach mir aussehen lassen, damit wir mehr Platten verkaufen. Der Mensch auf dem Cover sah dann also aus wie eine Kreuzung aus mir und John Lydon, als er Johnny Rotten war. Das erklärt vielleicht, warum Ldyon später mal meinte, AQUALUNG wäre sein Lieblingsalbum. Das lief bestimmt Malcolm McLarens Instruktionen entgegen.
Das nächste Werk, THICK AS A BRICK, war eine weitere Großtat. Nachdem AQUALUNG als Konzeptalbum missinterpretiert wurde, hast du THICK AS A BRICK als Parodie entworfen …
Ja, denn es stimmte wirklich, dass ich AQUALUNG nicht als Konzeptalbum erdacht hatte. Drei oder vier der Songs darauf hingen wohl irgendwie zusammen, der Rest hatte weder textlich noch musikalisch etwas miteinander zu tun. Bei THICK AS A BRICK dachte ich mir also: „Das wird jetzt eine kleine Verarsche dieses ganzen Prog-Dings. Das veräpple ich jetzt ein wenig“.
Und trotz all des Humors gab es eine tiefere Bedeutung in deinem Portrait des fiktionalen jungen Genies Gerald Bostock …
Das war schon irgendwie ernst, ja. Es ging um meine Kindheit, darum, in der Nachkriegszeit in einer Art Biggles-Comic-Mentalität groß zu werden. Nicht um den Übergang vom Jungen zum Mann, sondern um den vom Kind zum Jugendlichen. Dieses Album behandelte den ganzen Irrglauben, der aus der Art und Weise resultiert, wie wir als Kinder gehirngewaschen werden.
Wie meinst du das mit der Gehirnwäsche?
Früher gab es diese Comics namens „Rover“ und „Lion“, in denen es Geschichten über „Jerry“ und „den Hunnen“ gab. Sie alle verbreiteten schreckliche nationalistische Stereotype, die die meisten von uns Kindern hoffentlich nicht allzu ernst nahmen. Aber ich erinnere mich noch, wie ich 1969 erstmals durch Deutschland tourte und in meinem Kopf Sergeant Braddock sah, wie er den Hunnen erschoss. All das war Teil meiner Kindheit und es brauchte ein bisschen, um sich daran zu gewöhnen, in den Nachkriegsruinen Berlins zu sein. Es war eine neue Ära, der Kalte Krieg. Die Begebenheiten und Glaubenssätze, mit denen man aufgewachsen war, hatten sich geändert – die Idee einer eher aufsässigen und sehr nationalistischen britischen Stimmung.
Das Cover von THICK AS A BRICK war brillant, designt als Verarsche einer britischen Provinzzeitung, die du „The St. Cleve Chronicle And Linwell Advertiser“ genannt hast. Dieses Artwork hat dir wahrscheinlich besser gefallen, oder?
Klar, ich hatte das ja auch so angezettelt. Terry Ellis hasste es. Er meinte nur: „Das kannst du nicht machen, das ist lächerlich“. Und ich erwiderte: „Glaub mir, das klappt, das wird gut“. Das war die Art von surrealem britischen Humor, der mit „The Goons“ begann und mit „Monty Python“ weiterlebte. Es war seltsam, aber wir alle kapierten es. Danach verstanden es die Australier. Und am Ende verstanden es sogar die Amerikaner!
Hat dich das überrascht?
Na ja, als „Die Ritter der Kokosnuss“ 1975 erschien, war ich einer der Unterstützer des Films. Als ich mir den Streifen erstmals in New York mit der Band ansah, brachen wir bei gewissen Stellen in schallendes Gelächter aus, während der Rest im Kino komplett schwieg. Die lachten dafür wieder an Stellen, bei denen wir uns nur dachten: „Das ist nicht witzig, das ist viel zu abgedroschen und offensichtlich“. Die Amerikaner brauchten etwas, um Monty Python und THICK AS A BRICK aufzuschlüsseln, aber sie haben es geschafft.
Klingt, als hättest du mit dem Cover ganz schön viel Spaß gehabt …
Oh, wir mussten sehr viel lachen, als wir es gestalteten. Wir stahlen diesen Pythonesken Ansatz, indem wir uns all diese völlig lächerlichen und fiktionalen Geschichten ausdachten. Das war schon sehr albern und ja, wie du bereits vermutest hast, ein riesen Spaß. Erst kürzlich aß ich zu Mittag in der Heddon Street in London und ging an der Bank vorbei, wo wir einige der Fotos für das Cover geschossen hatten – damals musste Jeffrey mit einer Maske über dem Kopf und einem Koffer unter dem Arm aus der Bank laufen und so tun, als hätte er sie gerade ausgeraubt. Während des Shootings hat jemand die Polizei verständigt, weil einige dachten, dass es wirklich ein Überfall war. Als die Polizei dann aufschlug, dachten wir wiederum, sie wären welche von unseren Leuten in Kostümen. Das war alles sehr verwirrend.