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Jethro Tull: Ian Anderson im Interview

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Jethro Tull: Ian Anderson im Interview

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1976, also ein Jahr, bevor der Punk groß wurde, war Tulls neuntes Album, TOO OLD TO ROCK’N’ROLL: TOO YOUNG TO DIE!, aus heutiger Sicht ja prophetisch.
Es warf den Fehdehandschuh hin, kann man sagen. Ähnlich wie in den ersten Zeilen von ›Thick As A Brick, Part I‹, wo es heißt „I really don’t mind if you sit this one out“. Es war Konfrontation. Die Platte fungierte als rotes Tuch gegenüber Schriftsteller-Bullen, die einem nachjagten. Am Ende schadet es einfach nicht, ein gewisses Level an Selbstironie zu halten.

Dachtest du jemals darüber nach, wie man in diesem Business elegant alt werden könnte?
Ich dachte, es würde schon reichen, wenn ich als Musiker einfach alt werde, egal ob elegant oder unelegant. Regel Nummer eins: Versuche, nicht mit 27 zu sterben. Regel Nummer zwei: Versuche, nicht in deinen 50ern wegen des ganzen Rock’n’Roll-Lifestyles ins Gras zu beißen. Du weißt schon: Gehe kein Risiko ein, außer es geht nicht anders.

In STORMWATCH von 1979 warst du auch prophetisch unterwegs, als du mit dem Song ›North Sea Oil‹ vor einer kommenden Umweltkatastrophe warntest.
Das war keine Prophezeiung, ich war meiner Zeit gar nicht voraus. Ich reagierte lediglich auf Themen, die in gewissen Kreisen diskutiert wurden. Als die ersten Faktoren des Klimawandels in den 70er Jahren identifiziert wurden, musste man wirklich kein Professor sein, um zu verstehen, was da gerade passierte. Alle Infos waren schon da und zugänglich, wenn man sich dafür interessierte.

STORMWATCH ist auch die letzte Platte, die im klassischen Line-up von Jethro Tull entstanden ist: Du, Martin Barre, Keyboarder John Evan, Drummer Barriemore Barlow, Bassist John Glascock und Arrangeur David Palmer. Im November 1979 starb dann John Glascock im Alter von 28 Jahren an einem angeborenen Herzfehler. Außerdem munkelte man, dass er so viel trank und einwarf, dass du drohtest, ihn aus der Band zu werfen. Stimmt das?
John war immer schon ein Partytier gewesen, jedoch kein Berserker, er war ein netter Typ, ein angenehmer Betrunkener. Wir haben John nie rausgeworfen, ich erklärte ihm nur mal: „Du musst damit aufhören, dir Hilfe holen und zurückkommen, wenn es dir wieder gut geht“. Als wir nicht mehr täglich Kontakt hatten, hätte die Geschichte so oder ganz anders ausgehen können. Ich hoffe, er wusste damals, dass ihm die Tür zurück immer offen stand. Er kam aber nicht wieder und das machte uns alle schwer traurig.

Was hat das emotional mit dir gemacht?
Ich war sauer auf ihn. Ich war sauer auf mich. Ich hätte mehr tun können, um ihn auf die richtige Bahn zu lenken. Wir alle hätten versuchen sollen, ihm klarzumachen, dass das keine gute Art zu leben ist, dass sein Job davon abhängt, dass er nüchtern wird. Man wird nie wissen, ob er nur wegen der unwirksamen Herzoperation oder auch wegen seines Lifestyles gestorben ist.

Nur ein Jahr nach Johns Tod hatten auch Barriemore, Barlow und David Palmer die Band verlassen, obwohl ihr alle befreundet wart. Mit Barlow hattest du vor Tull bei The Blades gespielt, Palmer war seit 1968 an Bord gewesen. In all den Jahren hatte er ein Geheimnis vor dir bewahrt, das erst 1998 gelüftet wurde. Palmer outete sich als transgender und benannte sich in Dee um.
Ich erinnere mich gut daran. Ich rief ihn an – und ich sage „ihn“, weil er zu dem Zeitpunkt noch David Palmer war – und meinte: „Ich habe ein kleines Problem mit Journalisten, die vor meinem Haus abhängen und behaupten, dass ich mein Geschlecht umwandeln lassen möchte“. Ich lachte darüber und schob nach: „Wo haben die denn solche Geschichten her?“ Daraufhin sagte David nur: „Ach Ian, ich bin froh, dass du anrufst. Da ist etwas, das ich mir von meiner unter meinem immer größer werdenden Busen liegenden Seele reden möchte“. Zitat Ende.

Gab es Hinweise, die du übersehen hattest?
Vielleicht ein paar Anzeichen. Davids Klamotten aus den späten 70ern schienen etwas ambivalent. Jemand meinte: „Sieht aus, als hätte er einen BH unter seinem Shirt an“. Aber in all diesen vielen Jahren sprachen wir nie über seine Kindheitstraumata. Dieses Gespräch fand erst viel später statt, nach seiner Geschlechtsangleichung. Als ich sie dann sah, war das erstmal ziemlich schwierig für uns beide. Es war schwierig für viele Menschen, die den alten David Palmer kannten, weil er irgendwie gar nicht so wirkte. Er war männlich durch und durch, rauchte Pfeife und sprach mit tiefer Stimme. David war schon über 60, als er sich für diesen Weg entschied. Eine sehr tapfere Entscheidung.

Dee Palmer ist eines der vielen ehemaligen Mitglieder, die auch für das jüngste Buch „Die Ballade von Jethro Tull“ interviewt wurden. Aber eine Schlüsselfigur kommt nicht darin vor.
Ich konnte einige überzeugen, ihre Erinnerungen beizusteuern, aber leider nicht alle. Wir suchten die wichtigsten Musiker aus – John Evan, Jeffrey Hammond, Dave Pegg, Doane Perry. Aber Martin Barre wollte, aus welchen Gründen auch immer, nicht daran teilhaben. Für mich war es sehr interessant zu lesen, was all diesen Menschen zu dem Thema einfiel. Sie erinnerten sich anders an gewisse Ereignisse als ich, was noch mal einen ganz anderen Einblick in das Bandleben von damals gewährt. Ich habe nichts von ihren Teilen redigiert und ich denke, alle gingen recht diplomatisch zu Werke. Zwischen einigen Ex-Mitgliedern gibt es böses Blut, aber mit mir verstehen sich alle. Zu mir müssen sie nett sein, weil ich ihnen zweimal jährlich ihre Tantiemen ausbezahle. (lacht)

Wie emotional war es, so in die Vergangenheit einzutauchen?
Nicht sehr, weil das ja sozusagen mein Job ist. Ich erlebe das ja ständig durch die Musik. Ich gehe den alten Katalog durch, suche Songs für die Setlisten heraus. Außerdem habe ich von Anfang an gesagt: „Das ist kein klassisches Bekenntnis über Sex, Drugs und Rock’n’Roll, weil wir schlichtweg nicht diese Art von Band waren“.

Welche Art von Band dann?
Wir waren eine Band, die früh ins Bett ging und noch ein bisschen in einem Buch von Agatha Christie las. Klar gibt es bei jeder Truppe einen Party-Typen. Vor John Glascock war das bei uns Glenn Cornick [Bassist von 1967 bis 1970; Anm. d. Red.] Als Glenn Amerika entdeckte und Amerika ihn, fiel diese Umarmung nicht immer zwingend gesund aus. Er ging ständig aus und trank, was einen Keil zwischen uns trieb. Glenn war ein liebenswürdiger Kerl. Aber er wollte jede Minute seines Ruhms voll auskosten.

Du meintest mal, dass auch du in Amerika mit dem Trinken angefangen hättest …
Ich trank ein Bier. Löwenbräu, dieses schreckliche deutsche Gesöff, das auf unserem Rider stand. Aber ich war kein Gesellschaftstrinker, ich trank nur alleine in meiner Garderobe. Ab und zu genehmigte ich mir nach der Show einen Drink in der Hotelbar, aber eben nur einen.

Damals wart ihr musikalisch so auf dem Punkt. War das zwischenmenschlich auch so?
In jeder Gruppe gibt es ein oder zwei, die sich stärker anfreunden. Ganz am Anfang wollte sich niemand mit Glenn Cornick das Zimmer teilen, aber ich musste irgendwann. Das war nicht unbedingt toll, ich bevorzuge meine eigene Gesellschaft, ähnlich wie Martin Barre.

Hat sich das bei dir geändert?
Nein, ich bin ein Einzelgänger. Wenn du tourst, bist du eigentlich Teil einer sozialen Gruppe, vom Soundcheck bis zur Rückkehr ins Hotel. Aber ich reise alleine, benutze die Öffentlichen und buche meine eigenen Züge. Außerdem esse ich allein, wenn ich es einrichten kann.

Du tourst nach wie vor viel mit Jethro Tull und deinen intimeren Solo-Shows.
Der Mix aus Musik und Fragestunde bei meinen Solo-Shows ist interessant. Da kann das Publikum versuchen, mich festzunageln, und merkt schnell, was für ein glatter Typ ich doch bin – man bekommt mich nicht zu fassen. Eine Frau fragte mich mal: „Wenn du immer auf einem Bein stehst, ist das eine dann stärker als das andere?“ Ich stand auf und meinte: „Sieht denn eines muskulöser als das andere aus?“ Und sie nur so: „Ja, dein rechtes Bein sieht etwas massiver aus“. Ich darauf: „Eine gerissene Beobachtung, aber solange Sie kein Maßband dabei haben …“ Und natürlich griff sie in ihre Tasche, zauberte ein Maßband hervor und maß meine Oberschenkel auf der Bühne nach.

Gefällt es dir nach wie vor, die Welt zu bereisen?
Auf jeden Fall. Ich liebe die Americana-Kultur, aber Europa ist für mich bis heute sehr faszinierend mit seinen vielen Sprachen und Kulturen und den unterschiedlichen Auffassungen von Christlichkeit. Seit den frühen 70ern verspüre ich eine starke Verbindung zu Europa und das hat meine musikalischen Neigungen verstärkt. Ich spiele immer noch Stücke von Muddy Waters und Sonny Boy Williamson, nur um mich daran zu erinnern, wo meine Reise als angehender Profimusiker einst begann, aber im Grunde ist es das ganze europäische Zeug, das mich immer berührte – all die großen Komponisten aus Deutschland, Italien und Österreich. Im kulturellen Sinne bin ich ein Bewahrer, im politischen Sinne nicht ganz. Ich liebe Europa einfach. Ich bin ein großer Fan der italienischen Küche. Ich kann es nicht erwarten, meine Gabel wieder in Spaghetti Vongole zu tauchen. Das ist wie einen alten Freund treffen, nur dass ich eben alleine esse. Am besten in einem komplett leeren Restaurant.

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