Er ist der Sänger von Deep Purple, klar. Aber es gab auch eine Zeit vor der Legendenwerdung. In der spielte der Brite in kleinen Bands wie den Moonshiners, Episode Six oder den Javelins. Mit Letzteren, die ab 1962 knapp zwei Jahre lang an seiner Seite standen, hat er jetzt ein Covers-Album mit Neuinterpretationen von Songs ewiger Idole wie Chuck Berry, Buddy Holly, Sam Cooke und Howlin‘ Wolf aufgenommen. Es heißt: IAN GILLAN & THE JAVELINS.
Interview: David Numberger
Wie kam es zur Platte mit den Javelins?
Die Idee entstand vergangenen Dezember. Als ich die Jungs anrief, waren alle gleich Feuer und Flamme. Steve Morris, mein Kumpel in Liverpool und Aufnahmeleiter der Platte, spielte die Demos mit der Band ein, 16 Songs in bloß sechs Wochen. Im Mai reisten wir nach Hamburg und nahmen das ganze Ding in nur ein paar Tagen auf. Es lief fantastisch.
Hattet ihr Kontakt über die Jahre?
Nicht wirklich, bis auf die Reunion 1994 [aus der das bisher einzige Album der Band, SOLE AGENCY AND REPRESENTATION resultierte]. In den 60ern wollte ich weiter Musik machen, doch die Jungs hatten Job und Familie, sie waren keine Profis. Als ich jetzt im Kontrollraum saß, konnte ich das hören, sie haben sich nicht weiterentwickelt seitdem. Als sie loslegten, klang das genauso wie 1962 oder 63, und ich dachte mir: Wir sind nicht hier, um irgendetwas anderes zu erreichen, das hier ist echt! Mir war, als wäre ich in eine Zeitmaschine gestiegen, und ich musste lächeln. Es ist kaum möglich, so etwas künstlich zu erzeugen, und hier passierte es ganz natürlich. Aber zurück zur Frage: Wir haben uns nicht oft gesehen über die Jahre, ein Anruf hier, eine Mail da, vielleicht auch mal eine Weihnachtskarte. Aber wir haben uns auch nicht komplett verloren.
Wie fing damals in den 60ern eigentlich alles an mit euch?
Ich spielte in einer Gruppe, die sich Moonshiners nannte, doch wir hatten kaum Equipment und nur drei Songs auf Lager. Es gab also keine Zukunft. Bis dann die Javelins an die Tür klopften, da wechselte ich.
Wer waren deine größten musikalischen Helden?
Elvis, Little Richard, Buddy Holly, Rhythm & Blues, Howlin‘ Wolf, Little Walter, Chuck Berry. Später fragten mich in Amerika alle, woher ich all den Blues kannte. Der Grund ist: In den USA gab es Rassentrennung, weiße Jungs sollten keine schwarzen Sender hören. Wir in England dagegen wuchsen mit Bo Diddley und Sam Cooke auf. Mein allererstes Lieblingslied war ›Heartbreak Hotel‹, damit begann alles für mich.
Warum explodierte der Rock’n’Roll in England gerade zu der Zeit, als es auf die Mitte der 60er zuging, und was faszinierte die britischen Teenager damals so sehr an amerikanischer Musik?
Eine große Frage: Ein Grund ist, dass unsere Eltern und Großeltern nicht lange zuvor durch die Hölle gegangen waren. Alle waren froh, Freiheit und Glück zu finden und am Leben zu sein. Die einzige Musik, die man damals hören konnte, war lange Zeit BBC, wo sie nur Sachen wie Frank Sinatra, Dean Martin oder Perry Como spielten. Bis dann das Transistor-Radio erfunden wurde, ab da hörten die Teenager Radio Luxemburg, dazu kamen die Piraten-Sender. Amerikanische Musik war ein echtes Underground-Ding, und sie wurde kopiert: von den Beatles, von den Stones und, ja, auch von den Javelins. Alle fingen so an. Zeitgleich explodierten die Mode, der Film, die Kultur allgemein, die ersten Independent-Labels entstanden. All das wirkte zusammen.
Wie sahen eure Konzerte mit den Javelins damals aus?
Wir traten in Pubs, Schulen oder kleinen Hallen auf, meist vor 25 bis 60 Leuten. Es war aufregend, obwohl wir kaum Equipment hatten und alles nicht besonders professionell ablief. Meine erste professionelle Tour hatte ich mit Dusty Springfield. Wir waren einer von acht Acts und eröffneten die erste Hälfte des Abends mit sieben, die zweite mit vier Minuten, Dusty spielte als Hauptact. Nun ja, um es kurz zu machen: Die Javelins waren alles andere als Profis.
Was hast du in den zwei Jahren mit der Band gelernt?
Nun, jeder sollte sich weiterentwickeln. Als Maler lernst du, mit den Farben umzugehen, als Schreiber verbesserst du dich sprachlich und grammatikalisch, als Wissenschaftler lernst du, Forschungen anzustellen. Als Sänger schulst du deine Stimme, indem du deine Vorbilder kopierst, von Elvis über Sam Cooke bis Marvin Gaye. Bei mir kam noch eine gewisse musikalische Prägung von Familienseite hinzu: Mein Großvater, mein Onkel, meine Großmutter, alle spielten sie Instrumente, zu Hause liefen Tschaikowski, Mozart und Jazz. Was ich bei den Javelins lernte, war, vor Publikum zu singen. Meine wahre Stimme, mein wirkliches Ich fand ich erst 1969 mit Deep Purple. Ich machte den Mund auf und es war da. Das klappte, weil ich Marvin Gaye, Sam Cooke und all die anderen durch jahrelanges Training in mir hatte.
Was sagten deine Eltern zu deinen rockmusikalischen Ambitionen?
Mein Vater fand’s okay, meine Mutter nicht so. Für sie war es eine Phase, das wächst sich schon raus, dachte sie. (lacht)
Hast du bei deinen frühen Bands nebenbei noch gearbeitet?
Oh ja. Von 1962 bis 1965 habe ich in einer Fabrik, im Büro, im Supermarkt gejobbt. Aber ich bin einfach während der Arbeit eingeschlafen, weshalb ich überall gefeuert wurde. Daytime-Jobs waren nichts für mich. 1965 habe ich mich dann als Musiker professionalisiert.
Zurück zum neuen Album: Warum seid ihr denn für die Aufnahmen nach Deutschland gegangen?
Nun, das hat den einfachen Grund, dass unsere Plattenfirma in Hamburg ist. Und die hat alles bezahlt, also haben wir dort aufgenommen.
Sehr pragmatisch. Es gibt aber eine tiefere Verbindung zwischen dir und Deutschland, oder? Du hast mal einige Zeit hier verbracht.
Stimmt, 1965 war ich in Köln, in Frankfurt und in München. Es war weniger eine Frage, ob man dorthin wollte, es gab in England einfach kaum Clubs. Die Zeit in Deutschland bedeutete harte Arbeit, fünf Sets pro Abend, acht Sets am Samstag und am Sonntag. Aber du konntest spielen, und am Ende hast du vier Mark pro Tag gekriegt. (lacht) Der Krieg lag nicht lange zurück und unsere Eltern sagten: Geht dahin, seid glücklich. Es war eine großartige Zeit, bis heute habe ich Freunde in all diesen Städten.
Warum sind denn nun gerade diese 16 Stücke auf IAN GILLAN & THE JAVELINS?
Nun, es sind die Songs, die wir in den 60ern sangen, wir hatten keine anderen. Die Melodien und die Akkorde sind wunderbar, die Lieder atmen die Ära, aus der sie stammen, sie sind fantastisch, aufregend und kommen ohne Komplexität aus. Die damals aufgenommenen Platten klingen komplett anders als die heutigen, man hört den Klang der Räume, das Atmen des Sängers, alles ist unmittelbar und unperfekt. Der Gesang ist lauter, bei Harmonien konnte man jede einzelne Stimme hören. Man kann mit den heutigen technischen Mitteln viele tolle Sachen anstellen, aber das hat eben auch seine Nachteile.
Es finden sich viel Soul und R&B auf dem neuen Album, Lieder von Sam Cooke, Ray Charles und Bo Diddley. Was zieht dich speziell daran an?
Die Geschichten, die sie in ihren Songs erzählen, haben Patina, sie wurden über Generationen hinweg weiter gegeben. Beim Blues riechst du die Zigaretten, du schmeckst den Whiskey, du bekommst mit, wenn ein Stuhl knarzt, du hörst, wie die Instrumente im Raum angeordnet sind. Es war damals alles sehr intim, das ist heute anders.
Ein großartiges Interview! Es war (allerdings nicht nur deshalb) eine gute Idee, mir in einem Deep-Purple-Fan-Forum den ‚Nicknamen‘ „nainallig“ zuzulegen. Ich bin 9 Jahre jünger als Ian, aber vieles, was er Vorbilder und Einflüsse im Interview erzählt, deckt sich mit meinen Erinnerungen, leider nur als Fan, denn zum professionellen Musiker habe ich es nie gebracht.