Als die Ramones 1974 zusammenfanden, hauchten sie der fett und selbstgerecht gewordenen Rock-Kultur neues Leben ein. Die Band ist längst Geschichte, doch ihr Credo hat noch heute Bestand.
Allem Anfang wohnt ein Zauber inne. Manchmal aber auch ein kleines Missverständnis, zumindest was die wohl einflussreichste Punk-Band aller Zeiten betrifft: Denn als Joey, Johnny, Dee Dee und Tommy 1974 im New Yorker „Performance Studio“ erstmals aufeinander trafen, war der Genre-Begriff „Punk“ noch gar nicht erfunden. Was die vier jungen Männer aus Queens einte, war vor allem zweierlei: Unzufriedenheit und Lust. Erstere bezog sich auf die zeitgenössische Rockmusik, etwa auf das protzige Superstar-Gehabe von Bands wie Led Zeppelin und Pink Floyd, die mit tonnenschwerem Equipment Virtuosität und Kunstfertigkeit zelebrierten, sich dabei von der Essenz des Rock’n’Roll aber mehr oder minder weit entfernt hatten. Lust verspürten sie darauf, genau jene Essenz in die Gegenwart zu retten.
Die Frage, ob Kunst etwas mit Können zu tun haben sollte, ist ein ewiger Streitpunkt. Aber seien wir ehrlich: Das Faszinierende an Rock’n’Roll im unverfälschten Sinne ist die Pose, die richtige „Attitude“, die raue Energie, der Mut zur scheinbaren oder echten Trivialität. Elf Minuten lange Songs mit gloriosen Soli und trickreichen Tempowechseln mögen große Kunst sein, doch der Rock’n’Roll ist dazu in der Lage, alles, was gesagt werden muss, in 150 Sekunden zu sagen. Zwei, drei Akkorde reichen mitunter völlig. Die Ramones wählten genau diesen Ansatz, zitierten die Garagen-Bands der Sixties, ergänzt um den Trash-Faktor des Bubblegum-Pop – keine Musik für Schöngeister, sondern derbes Uptempo-Amüsement für abenteuerlustige Teenies, die einfach nur die Sau rauslassen wollen. Dass sie mit diesem Konzept erst zu den Lieblingen der New Yorker Hipster-Szene aufstiegen und kurz darauf als Urväter des Punk gerühmt wurden, war 1974 nicht ansatzweise absehbar.
Was zu einem weiteren Streitpunkt führt, nämlich der Frage, wer den Punk denn nun erfunden hat. Auf der britischen Insel pflegt man sich diesen Orden ans Revers zu heften, woraufhin Kenner der US-Szene gemeinhin nur mit vier Buchstaben antworten: CBGB. Denn so hieß der New Yorker Club, in dem die Ramones, Richard Hell und Johnny Thunders schon Punk unters Volk streuten, als Johnny Rotten noch John Joseph Lydon hieß und beim Hackney Technical College den Unterricht schwänzte. Formal betrachtet spielten schon Iggy & The Stooges und die MC 5 Punk, Ende der Sechziger also, und wer will, kann die Wurzeln sogar bis Mitte des Jahrzehnts zurückverfolgen, als US-Garagenbands den Proto-Punk zusammenhämmerten. Wer’s nicht glaubt, sollte sich einmal ›Riot On Sunset Strip‹ anhören, 1967 aufgenommen von den Standells. Doch seien wir salomonisch: Die Yankees haben’s erfunden, aber die Briten – respektive Malcolm McLaren – haben daraus einen Trend gezimmert, ein Pop-Phänomen, eine Mode.
Apropos: Modisch betrachtet, entsprachen die Ramones zu keinem Zeitpunkt all den späteren Punk-Klischees. Keine grün gefärbten Iros. Keine Sicherheitsnadeln. Vier Typen in engen Jeans und mit langen Haaren, die rein optisch wohl auch als gestandene Bluesrocker durchgegangen wären. Anarchie? Revolution? Königinnenmord? Bei den Ramones kein vordergründiges Thema. Stattdessen gab es comichaft überzeichneten Sarkasmus á la ›Blitzkrieg Bop‹, makabren Psycho-Punk wie ›Cretin Hop‹, ›Teenage Lobotomy‹ und ›I Wanna Be Sedated‹. Ganz zu schweigen von komplett apolitischem Teenie-Futter der Sorte ›Do You Wanna Dance?‹: 1958 von Bobby Freeman geschrieben und sieben Jahre später von den Beach Boys popularisiert, ließ die siebte Single der Ramones den ironiefreien Polit-Punk anno 1978 vermutlich das durchstochene Näschen rümpfen. Dürfen die das?