Pearl Jam sind nicht gerade eine Band, die in Nostalgie schwelgt. Somit ist es nicht ganz selbstverständlich, dass Mike McCready auf die Ursprünge von TEN zurückblickt, das quasi auch den Ursprung von Pearl Jam selbst markiert, und dabei immer noch darüber erstaunt ist, wie sich damals alles zugetragen hat. „Ich dachte mir nur: Wie und wann ist das alles passiert? Bis heute habe ich keine Antwort auf diese Fragen, außer, dass wohl Schicksal, Timing, Glück oder Talent eine Rolle gespielt haben müssen.“ Wahrscheinlich liegt Pearl Jams Erfolg eine Kombination all jener Faktoren zugrunde. Wie auch immer TEN entstanden sein mag, es ist nicht nur ein unmissverständliches Statement, sondern auch einer der Stützpfeiler der Rockmusik der 90er – mit einer Tragweite, die seit Jahrzehnten vieles andere überragt.
Eddie Vedder stieß ja etwas später zur Band. Somit waren es du, Jeff Ament und Stone Gossard, die den musikalischen Kern für TEN formten. Und während die Songs darauf mit einem Gespür für Classic Rock verwurzelt sind, fügtet ihr alle euren ganz eigenen Stil und Geschmack hinzu. Worin haben sich die einzelnen Bandmitglieder unterschieden, wo habt ihr euch getroffen?
Ich spielte seit meinem elften Lebensjahr in Bands. Meine Gruppe vor Pearl Jam hieß Shadow, wir waren eine Art Punk-Metal-Ding. Ich durchlief also eine Metal-Phase, außerdem lebte ich zwischen 1986 und 1987 in Kalifornien und versuchte, dort als Musiker auf einen grünen Zweig zu kommen. Tatsächlich hatte ich circa ein Jahr vor Pearl Jam die Gitarre an den Nagel gehängt, weil ich so enttäuscht davon war, es einfach nicht zu schaffen. Doch ich kannte Stone seit der sechsten Klasse. Wir besuchten gemeinsam Konzerte von Judas Priest und lernten bei Maiden-Shows, wie man headbangt. Wir teilten diese Leidenschaft für Metal. Jeff hingegen kam eher aus der Straight-Edge-Ecke, er mochte Minor Threat, die Ramones, solches Zeug. Stone konnte damit auch etwas anfangen, ich jedoch stand wirklich total auf Maiden, Priest und Kiss. Außerdem mochte ich die Rolling Stones und das ganze Zeug. Mir gefiel aber auch der ganze 80er-Kram und ich beschäftigte mich mit Stevie Ray Vaughan, mit B. B. King und dem Blues. Das spielte also auch eine Rolle. Wir hatten aber auch viele Gemeinsamkeiten: Wir liebten Alice Cooper und Aerosmith. Ich finde, Stone groovte wirklic in diesem Aerosmith-Vibe. Und wenn man sich die Musik aus der Mother-Love-Bone-Ära anhört, spürt man richtig, wie Jeff und er groovten, als sie diese
Songs schrieben. Ich erinnere mich daran, wie Stone düsterer werden wollte, als wir anfingen. Damals wusste ich jedoch noch nicht, was er damit meinte.
Zu den Anfangszeiten von Pearl Jam bist du also richtig in den Blues abgetaucht. Diesen Einfluss hört man definitiv bei deinem Gitarrenspiel auf TEN heraus.
Ich sah mir damals den Film „The Last Waltz“ über The Band im Fernsehen an. Der Teil mit Muddy Waters haute mich um. Irgendwas an dieser Musik brachte mich dazu, nicht mehr nur so zu spielen [nimmt seine Strat und spielt ein Tapping-Lick], obwohl ich das ziemlich gut konnte, sondern mir eher eine Spielweise anzueignen, bei der
weniger mehr ist. So kam ich zu Stevie Ray Vaughan und direkt in den Blues.
Du sagst zwar „weniger ist mehr“, aber bei den Leadgitarren auf TEN ist ja doch einiges los. Du spielst viele Soli …
Ja, auf diesem Album ist sehr viel Leadgitarre zu hören. Aber trotzdem spielte ich auf TEN immer noch weniger als in den fünf Jahren zuvor. Aber stimmt schon, da passiert einiges. Ich hatte absolut freie Hand, die anderen meinten nur: „Zieh einfach dein Ding durch“. Auf Songs wie ›Even Flow‹ sind zwar ein Haufen Noten, aber eigentlich wollte ich, dass es sich nach Stevie oder Hendrix anhört. Da gibt es diesen einen Ton, den Hendrix bei ›Machine Gun‹ spielt und das ist der schönste, spannungsgeladenste, traurigste, zerrissenste Ton, den ich jemals gehört habe. Meine ganze Karriere hindurch habe ich versucht, diesen Ton zu treffen. Wenn man mich also in Songs wie ›Alive‹ oder so hört, wie ich einige dieser Noten halte, dann nur, weil ich versuche, diesen Ton zu treffen. Ich weiß, dass ich es nie schaffen werde, aber alleine vom Gefühl her ist das für mich der Gipfel.
Musstest du deine Shredder-Tendenzen aufgrund des musikalischen Klimas in Seattle zurückschrauben?
Um ehrlich zu sein, hatte ich einfach das Gefühl, dass das bei Pearl Jam nicht funktionieren würde. Wir waren damals so sarkastisch und verarschten vieles, was damals geschah. Aber ich liebte Randy Rhoads. Ich liebte Eddie Van Halen. Ich sah ihn damals viermal zusammen mit David Lee Roth. Aber für uns schien diese Herangehensweise nicht zu funktionieren. Und deshalb war ich schon vorher davon weggekommen.
Du dachtest dir also nicht: „Wenn ich jetzt mit dem Tappen anfange, schmeißen sie mich aus Seattle raus“? (Lacht) So dachte ich nicht darüber. Aber wahrscheinlich hast du Recht, das hätte man nicht akzeptiert. Was total bescheuert ist, wenn man darüber nachdenkt. Dieser Punk-Ethos, bestimmte Dinge nicht mögen zu dürfen und so ein Quatsch. Aber wenn du in deinen Zwanzigern bist, versuchst du einfach, mitzugehen und etwas zu schaffen. Es fühlt sich seltsam an, zurückzublicken.
TEN war unglaublich erfolgreich, brauchte jedoch ein bisschen Anlaufzeit.
Es dauerte circa ein Jahr, bevor die Sache richtig ins Rollen kam. Ich dachte mir damals: „Ich habe das College geschmissen, gerade meinen Job bei Julia’s gekündigt. Ich sitze in einem Van mit diesen Typen und wir touren durch Texas“. Für mich war das schon erfolgreich, weil ich genau das machen wollte, seit ich 15 war. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass dieser Traum einmal in Erfüllung gehen würde.
Wann hast du kapiert, dass es wirklich bergauf geht für die Band?
Als wir zum Lollapalooza eingeladen wurden. Da ging die Bombe hoch. Wir waren die zweite Band, spielten um 16 Uhr nachmittags direkt nach Lush und plötzlich liefen 30.000 Menschen auf die Bühne zu. Das war totaler Mindfuck und großartig zur selben Zeit. Wenn so etwas passiert, gehst du einfach mit, weil du es eh nicht kontrollieren kannst.
Trotzdem habt ihr versucht, die Kontrolle zu behalten. In den Jahren nach TEN hatte man manchmal das Gefühl, dass ihr euren Erfolg eher als Fluch denn als Segen gesehen habt. Zwar habt ihr weiter Platten gemacht und seid auf Tour gegangen, aber ihr habt euch aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.
Die Entscheidung, keine Videos zu veröffentlichen und weniger Interviews zu geben, wurde von Jeff, Stone und Ed
getroffen. Sie dachten, es wäre notwendig. Ed stand auch viel mehr unter Beobachtung als wir, es war ihm wahrscheinlich einfach zu viel. Uns allen wurde es zu viel. Trotzdem meinte ich damals: „Genau das wollten wir, seit wir Kinder sind. Lasst uns dranbleiben, Videos machen, lasst uns den Erfolg umarmen“. Aber sie hatten keinen
Bock darauf, sie hatten Angst, dass die Band daran zerbrechen würde. Wahrscheinlich hatten sie Recht und manchmal glaube ich, dass wir genau deshalb heute noch da sind. Wir trafen oft Entscheidungen, die den Plattenfirmen nicht passten.
Wie denkst du heute über TEN?
Ich habe einige sehr schöne Erinnerungen an diese Zeit. Zum Beispiel, wie wir zum ersten Mal in unserem Leben nach England flogen, um die Platte in den Ridge Farm Studios zu mischen. Und generell, wie es sich damals anfühlte, ein Album aufzunehmen und zu wissen, dass wir eine gute Band waren. Wir feuerten aus allen Rohren. Es war eine kreative und aufregende Zeit. Wir dachten nur: „Oh Gott, wir nehmen eine Platte für ein echtes Label auf!“ Davon hatte ich immer geträumt, deshalb hingen ja in meinem Kinderzimmer lauter Kiss-Poster. Und ich war dankbar für Jeff und Stone, weil auch sie vorher schon einmal diese Gefühlswelt durchlaufen hatten. Sie kannten sich damit aus. Ich hatte Glück.
Würdest du irgendwas an TEN verändern, wenn du dich zurückbeamen könntest?
Ich wollte schon immer ein besseres Solo auf ›Even Flow‹ spielen. Das sollte ich wahrscheinlich nicht sagen, weil manche Leute es so mögen wie es ist. (lacht) Aber ansonsten würde ich nichts an dieser Platte ändern. Sie war ein wahr gewordener Traum. (Rich Hobson)