4+1 = 4
Erinnern wir uns. David Gilmour stößt Anfang 1968 als Unterstützung für den unter Drogeneinfluss sich zunehmend selbst verlierenden Syd Barrett zur Band. Beide kennen sich aus ihren Jugendtagen in Cambridge. Zunächst unterstützt der neu Hinzugekommene die Gruppe nur bei Konzerten, ersetzt Barrett jedoch schließlich dann ganz. Am 2. März 1968 beschließt die Gruppe, ohne den Mann weiterzumachen, der bis dahin ihr Hauptsongschreiber war. Frühe Perlen wie ›Arnold Layne‹, ein Song über einen Transvestiten, der Unterwäsche stiehlt, und ›See Emily Play‹ stammen von ihm. Jetzt aber steht er, zugepumpt mit Drogen, oft nur noch reglos auf der Bühne herum. Er ist eine Belastung, die Band braucht ihn nicht mehr – auch dank des Neuzugangs in ihren Reihen.
Das Zweitwerk Pink Floyds, A SAUCERFUL OF SECRETS, enthält nur noch eine Barrett-Komposition. Gänzlich ohne ihren früheren Lead-Gitarristen entstehen die Folgescheiben MORE und UMMAGUMMA. Und spätestens als Pink Floyd mit ATOM HEART MOTHER 1970 zum ersten Mal die Spitzenposition im Königreich erreichen, ist David Gilmour in die Gruppe integriert und ein fester Teil ihres Klangkosmos‘ geworden. Der spezielle Sound seiner „sprechenden“ Gitarre erhöht den Wiedererkennungsfaktor der Briten enorm. Auch als Sänger bringt er sich mehr und mehr ein. Ohne Zweifel wäre die Transformation der Gruppe von einer psychedelischen Rockband unter vielen hin zu einem Top-Act mit hochwertigen Alleinstellungsmerkmalen ohne Gilmour nicht möglich gewesen. Doch noch haben Pink Floyd ihren Zenit nicht annähernd erreicht, ihr Potential bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Das im Jahr darauf folgende Album MEDDLE lässt mit Songs wie ›One Of These Days‹ und dem über 23-minütigen ›Echoes‹ allerdings erahnen, was noch zu erwarten ist. Noch wirken andere Nummern wie ›Fearless‹ oder ›San Tropez‹ bis auf einige spezielle Soundeffekte vergleichsweise konventionell. Pink Floyd werden diese Atavismen jedoch sehr schnell hinter sich lassen. Schon jetzt, drei Jahre nach dem Ausschluss Syd Barretts, ist die Geschwindigkeit, mit der die vier Musiker mit jedem weiteren Album ein neues Level erklimmen, atemberaubend. Großes kündigt sich an.
Gilmours Einfluss wächst parallel zum Erfolg, der Erfolg mit Gilmours Einfluss, seinen Beiträgen, seinem unverwechselbarem Spiel auf der Gitarre. Keine Rede mehr zu diesem Zeitpunkt von einem Mann namens Syd Barrett. Pink Floyd schicken sich an, nicht nur zur gigantischsten Formation dieses Planeten, sondern der Galaxis zu werden und sämtliche Verkaufsrekorde zu brechen. Bald halten nur noch Led Zeppelin mit. Als kleiner Stolperstein erweist sich für Waters, Gilmour, Wright und Mason nur noch OBSCURED BY CLOUDS, das auf ihrem Soundtrack für den französischen Film LA VALLÉE (Regie: Barbet Schroeder) basiert. Etliche Stücke dieses 1972 erschienenen Albums klingen für Floyd-Verhältnisse relativ spontan und erstaunlich unavantgardistisch. Der wie eine von Ringo gesungene Beatles-Nummer erinnernde Song ›Free Four‹ wird gar ein Single-Hit in den USA und sorgt für Popularität auch jenseits des Atlantiks. Insgesamt bleiben die Verkäufe jedoch deutlich hinter MEDDLE zurück. ›Absolutely Curtains‹ jedoch, mit seinem breiten, schwebenden Keyborad-Teppich zu Beginn, weist bereits den Weg. Und der sieht eine Kräfteverschiebung innerhalb der Gruppe vor. Ab 1973 ist es alleinig Roger Waters, der für die Texte verantwortlich zeichnet. Von ihm stammt auch die Idee, ein Konzeptalbum in Angriff zu nehmen. Es wird Pink Floyds größter Triumph.
Ohne den künstlerischen Anspruch, den die Band an sich selbst stellt, aufzugeben oder auch nur zu reduzieren – ganz im Gegenteil –, kommen einige Songs von DARK SIDE OF THE MOON in ihrer verstärkten Eingängigkeit den Hörgewohnheiten der breiten Masse jetzt entgegen. Der puren Sexyness von ›Time‹ oder ›Money‹ kann man sich nur schwerlich entziehen. Der Floyd-Sound ist zu voller Blüte gelangt, Gilmours Gitarrenkünste ebenfalls. Von Roger Waters initiiert, aber ohne Gilmours Beitrag undenkbar in seiner Pracht, katapultiert der Verkaufserfolg dieses Albums Pink Floyd in gänzlich neue Sphären. Sie sind endgültig zur mythenumrankten Supergroup geworden, gleichwohl viele Kritiker der Band den Ausverkauf des Artifiziellen vorhalten. In der Musikzeitschrift „Sounds“ heißt es 1973: „Die Pink Floyd leben mittlerweile davon, sich selbst zu zitieren und zu kopieren, was heißen soll: Sie glänzen durch Einfallslosigkeit.“ Blödsinn. Unstrittig ist dagegen, dass das Album den Geschmack des Publikums trifft. Der gewaltige Erfolg bestärkt Waters darin, auch weiterhin das Ruder in Händen zu behalten und den anderen Bandmitgliedern den Kurs vorzugeben. Nick Mason, Richard Wright und auch David Gilmour beugen sich. Noch funktioniert der Vierer als Einheit.
Besuch eines Geistes
Zwei Jahre lässt sich das Quartett bis zur nächsten Veröffentlichung Zeit. Der Erfolgsdruck ist beträchtlich. In ihren Erinnerungen beschreiben alle vier Musiker die Entwicklung neuen Materials als langwierigen und quälenden Prozess. Erneut ist es Roger Waters, der nach und nach ein Konzept ausarbeitet, das im Kern auf drei neuen, bereits 1974 auf Tournee gespielten Stücken beruht. ›Shine On You Crazy Diamond‹, das in seinem Aufbau ›Echoes‹ ähnelt, wird gegen Gilmours Willen in zwei Teile aufgesplittet, um zwei weitere Stücke (›Welcome To The Machine‹ sowie ›Have A Cigar‹) zwischen ihnen einzubetten. So angeordnet, transportiert das Konzept von WISH YOU WERE HERE die Geschichte ihres einstigen Frontmanns Syd Barrett und seines Aufstiegs und Falls in der Musikindustrie.
Die prägnante Notenabfolge in ›Shine On You Crazy Diamond‹ (mit dem verrückten Diamanten ist Barrett gemeint) hatte David Gilmour durch Zufall entdeckt. Kombiniert mit den zeitlupenartigen, flächigen Keyboard-Klängen von Wright sowie den Lyrics von Waters gelingt der Band ein weiteres Meisterwerk, dass trotz aller bitteren Essenz auf inhaltlicher Ebene kompositorisch erhabene Größe und Schönheit entfaltet. Die Verbitterung, die man zu diesem Zeitpunkt gegenüber der Musikindustrie empfindet, bringt ›Have A Cigar‹ sarkastisch auf den Punkt. Darin heißt es: „The band is just fantastic, that is really what I think. Oh, by the way, which one’s Pink?” Gespenstisch wird es im Studio, als urplötzlich der Besungene selbst in der Tür steht, Syd Barrett persönlich, und von seinen einstigen Gefährten zunächst nicht erkannt wird, sosehr haben ihn die Drogen und Psychopharmaka physisch verändert.
Quälender Prozess oder nicht – WISH YOU WERE HERE erweist sich 1975 als würdiger Nachfolger von THE DARK SIDE OF THE MOON. Pink Floyd können die Ausnahmeposition, die sie in der Rockwelt innehaben, nicht nur verteidigen, sondern zementieren. Das Album rangiert sowohl im heimischen Großbritannien als auch in den USA auf Platz 1. Die Zukunft sieht gut aus, geradezu rosig. Doch von nun an beginnt der sich fast zwei Jahrzehnte hinziehende Abstieg der Band.
Von Tieren und Mauern
„So ist die Welt“, sagt das Epos, und Waters, dieser Erkenntnis folgend, geht hin erschafft einen dunklen Monolithen namens THE DARK SIDE OF THE MOON. „So ist der Mensch“, sagt das Drama, und Waters, dieser Formel eingedenk, erschafft WISH YOU WERE HERE, gibt damit seinem ehemaligen Leadgitarristen Syd Barrett seine Würde zurück und rettet ihn ein Stückweit vor dem Vergessen. Denn Kunst ist der Triumph über die Realität. Über die Tristesse des Wirklichen. Indem der Künstler ordnet, fügt er der Welt, die er für missraten hält, etwas hinzu, was er ansonsten in ihr vermisst. Er korrigiert und versöhnt. Das Individuum mit seiner Welt. Doch leider endet unsere Saga nicht damit. Denn die Novelle berichtet: „Stellt euch vor, was sich neulich zugetragen hat!“
Und dieses Mal ist Waters selbst der tragische Held, der seinem eigenen Führungsanspruch wie einer heimtückischen Krankheit erliegt. Zwei Großtaten in Folge sind dem Floyd-Headmaster Roger Waters und seinen Streitern geglückt. Zwei ewige Meilensteine, deren Gewicht nun zur Last wird. Denn wen die Götter hassen, dem schenken sie Erfolg.
Was ist es, was einen Menschen vorantreibt? Kreativität und Unrast, die Suche nach Selbstbestätigung und Anerkennung, Eitelkeit. Der Wunsch, etwas in die Welt zu entlassen, das noch Bestand haben wird, wenn man selbst schon lange in all seine Atome aufgelöst ist. Bricht nun auch noch der Erfolg in nie gekanntem Ausmaß über einen Menschen herein, ist der fatale Schritt zur Hybris nicht weit. Mit dem nächsten Projekt, ANIMALS, verhebt sich Floyd-Boss Waters nicht wenig. Nicht, weil die Musik auf diesem Album wenig sphärisch und stattfessen umso rockiger klingt. Waters variiert das Konzept von George Orwells Roman ANIMAL FARM und teilt die Menschen in drei Klassen ein: in Dogs (Menschen, die für ihren Profit bereit sind, über Leichen zu gehen), Pigs (falsche Moralapostel, die Wasser predigen, aber Wein trinken) und Sheep (die breite Masse, die einfach nur ihre Ruhe haben will). Jedem dieser drei Typen widmet Waters einen Titel, die zudem von dem kurzen Intro und Outro ›Pigs On The Wing‹ umkleidet sind.
Der Sperrigkeit dieses Konzeptes entspricht in weiten Teilen auch die Musik. Wrights Keyboards haben auf ANIMALS einen deutlich geringeren Stellenwert als auf den Vorgängeralben. Der klassische Floyd-Sound ist zwar noch erkennbar, wirkt aber fragmentiert und zerrissen. Wie auch immer man persönlich zu diesem Werk steht – nach THE DARK SIDE OF THE MOON und WISH YOU WERE HERE fühlt man sich als Käufer ein wenig geprellt, so als wäre man auf die Verheißungen eines Scharlatans hereingefallen. ANIMALS verkauft sich in der Folge deutlich weniger als die zwei Vorgängeralben. Klar, andere Bands wären über abgesetzte Stückzahlen von 4,5 Millionen begeistert gewesen. Aber wir haben es hier nicht mit der Goombay Dance Band zu tun, sondern mit Pink Floyd. Ihrem Status entsprechend ist das Album beinahe ein Flop. Dennoch bricht die Band erneut zu einer gigantischen und erfolgreichen Welttournee auf. Bezeichnenderweise werden auf späteren Tourneen keine ANIMALS-Songs mehr gespielt. Es fehlen einfach die elegischen Klänge, mit denen die Fans Pink Floyd seit MEDDLE identifizieren.
In Waters keimt allerdings schon die nächste Idee um. Keine Tiere diesmal, sondern eine gewaltige Mauer, als Symbol selbstgewählter Isolation. Während der Aufnahmen kommt es erstmals zu offen zu Tage tretenden Differenzen zwischen Mason, Gilmour, Waters und Wright, die zukünftige Ausrichtung der Gruppe betreffend. Insbesondere zwischen Waters und Gilmour kracht es nun heftig. Wie Wright vertritt er den Standpunkt, dass es vernünftiger sei, zurückzukehren zum elegisch-luftigen Stil, der Pink Floyd groß gemacht hat. Doch Waters setzt sich durch, was eine völlige Neuausrichtung zur Folge hat.
Ein letztes Mal können Streitigkeiten beschwichtigt und in Kreativität umgesetzt werden, aber es ist unübersehbar, wie die übrigen Bandmitglieder zeitgleich in den Hintergrund gedrängt werden, degradiert zu Erfüllungsgehilfen bei Umsetzung der Visionen von Waters. Als Komponist taucht Gilmour lediglich noch bei ›Run Like Hell‹ und ›Comfortably Numb‹ auf, Wright und Mason nirgends mehr. Aus einer miteinander kooperierenden Band ist eine One-Man-Show geworden.
Wright hat noch vor Abschluss der Aufnahmesessions genug von alledem. Ohnehin genervt davon, sich der ständigen Kritik seiner Kollegen ausgesetzt zu sehen und es keinem, vor allem aber Waters nicht rechtmachen zu können, weigert er sich, aus Griechenland, wo er sich gerade aufhält, zurückzukehren, um an der letzten Session mitzuwirken. Waters zufolge sei Wright allerdings sowieso zu ausgebrannt gewesen und hätte die Keyboardparts auf THE WALL deshalb Studiomusiker Peter Wood und Produzent Bob Ezrin überlassen. Und damit nicht genug: Waters gelingt es, Gilmour davon zu überzeugen, Wright zu entlassen. Und so nimmt der Keyboarder zwar noch an den folgenden Live-Aufführungen von THE WALL teil, ist zu diesem Zeitpunkt aber schon kein offizielles Bandmitglied mehr!
Müßig, an dieser Stelle über den Erfolg von THE WALL zu sprechen, das im November 1979 erscheint, über die gewaltige Promotion-Maschine, die in Gang gesetzt wird, um das im Grunde eher Pink-Floyd-untypische Werk global zu vermarkten. Hilfreicher Weise hat man mit ›Another Brick In The Wall‹ einen weltweiten Hit. Bigger is better, lautet nun die Parole. Aufgrund der extrem kostspieligen und aufwendigen Bühnendekoration wird THE WALL 1980 und 1981 mit großem Medien-Brimborium lediglich in New York, Los Angeles, London und Dortmund aufgeführt. Die Uraufführung findet am 7. Februar 1980 in Los Angeles statt, dargeboten von einer Band, die keine mehr ist. (Die Regisseure Alan Parker und Gerald Scarfe verfilmten THE WALL zwei Jahre später. In der Hauptrolle: Bob Geldorf, damals noch nichts anderes als nur Frontmann seiner Band The Boomtown Rats.)
THE FINAL CUT
Wieder einmal sieht sich Roger Waters bestätigt durch den Erfolg. Wozu braucht er seine Mitstreiter von einst überhaupt noch, die seinem Gespür und Genie scheinbar nicht zu folgen vermögen? Quasi endgültig im Alleingang macht er sich an die Arbeit zu THE FINAL CUT, einem eklektizistischen Werk über seinen verstorbenen Vater, den er verlor, als er ein Kleinkind war. Die beiden verbliebenen Mitglieder Mason und Gilmour werden von ihm nur noch ins Studio bestellt, um ihre jeweiligen Instrumentalparts einzuspielen. So entsteht das einzige Floyd-Werk, bei welchem Waters in den Credits als alleiniger Autor und Komponist sämtlicher Songs angeführt wird. Das Album selbst, 1983 erschienen, findet dennoch seinen Weg in die Charts: Platz 1 in Deutschland und auf der heimischen Insel, immerhin Rang 6 in den USA, was allerdings mehr am neuerlichen Medienhype gelegen haben dürfte als an der Qualität seines Inhalts, sowie daran, dass die Fans der Band grundsätzlich alles kauften, auf dem der Name Pink Floyd stand. Wäre es Waters eingefallen, ein Konzeptalbum über das Balzverhalten der Taschenkrebse rauszubringen – unter dem Signum Pink Floyd in die Läden gestellt, wäre ihm auch damit der Erfolg sicher gewesen. Das Rockbiz ist bisweilen ein bizarres Geschäft, und Floyd-Fans waren Kummer inzwischen gewöhnt. Und der Kummer – er wurde noch größer.