Zerfetzte Landschaften.
Er sitzt in Rom, schimpft über die sterbende Stadt, über Goethe, über zeitgenössische Künstler und Schriftsteller, trinkt Wein aus Kanistern, raucht Zigaretten, versucht aufzuhören, raucht noch mehr Zigaretten und schreibt Liebesbekundungen an seine Frau: Schon auf den ersten Blick überzeugt Brinkmanns Briefroman „Rom, Blicke“. Doch da kommt noch mehr. Im collageartigen Buch voller Briefe und Postkarten, Zeitungsausschnitte und Bilder geht’s bei weitem nicht nur um Alkohol, Tabak und Wut, sondern um enttäuschte Hoffnung, Individualismus, Gegenwart, das Schreiben selbst.
Als Schriftsteller-Stipendiat fährt Rolf Dieter Brinkmann in den 70ern mit dem Zug nach Rom und wohnt mit anderen Künstlern in der Villa Massimo. Dort schreibt er Briefe an seine Frau, die mit Kind zu Hause in Köln bleibt, sowie an Freunde und Bekannte. Bis ins kleinste Detail schildert er seine Gänge durch die Stadt, seinen Aufenthalt in der Villa, die anderen Künstler und die Leute in Rom. Dazwischen sind Postkarten sowie Zeitungs- und Buchausschnitte arrangiert. Dank Brinkmanns genauer Beobachtungen geht man während des Lesens praktisch neben ihm durch Rom, sitzt mit ihm allein im Zimmer, während die Schreiber-Kollegen im Gemeinschaftsraum die Tagesplanung durchgehen. Die zeitgenössische Literatur ist seiner Meinung nach zu sehr an der Vergangenheit und zu wenig am Fortschritt interessiert. Mit seinen neuen, von der amerikanischen Underground-Literatur (u.a. Burroughs) beeinflussten Verfahren will er die Gegenwart greifen. Mit der Cut-Up-Methode zerschneidet er Seiten und ordnet sie neu, schon der Titel „Rom, Blicke“ verrät das Vorgehen. Denn: Was ist ein Blick anderes als ein Cut-Up?
Brinkmann zürnt über Goethe und die sterbende Literaturstadt Rom. Doch steht er damit nicht selbst in der Goethe-Nachfolge als Italienreisender? Also doch nicht nur Fortschritt ohne Rückblick? Vielleicht eher ein zeitgemäßes Umgehen mit der Vergangenheit?
Fest steht: Mit seinen Romanen wie „Keiner weiß mehr“ oder eben dem erst posthum erschienenen „Rom, Blicke“ und seinen Gedichten wollte Rolf Dieter Brinkmann das darstellen, was er unmittelbar sah – Gegenwart. Ohne ihn gäbe es die deutsche Popliteratur, wie wir sie heute kennen, nicht. Die von ihm stets geforderte Umwälzung in der bundesrepublikanischen Literatur erlebte er selbst jedoch nicht mehr. 1975 kam er mit 35 Jahren bei einem Verkehrsunfall in London ums Leben.
Text: Vincent Numberger
Rom, Blicke (1979)
Von Rolf Dieter Brinkmann