Mit mehr als einer Milliarde Streams auf YouTube und Spotify ist die Zusammenarbeit von Sängerin Bonnie Tyler und Autor/ Produzent Jim Steinman die wohl größte Powerballade aller Zeiten. (Text: Jo Kendall)
Auf dem Papier sieht diese Partnerschaft seltsam aus: Auf der einen Seite ist da die Pop- und Country-Sängerin Bonnie Tyler, die Tochter eines Kohlenminenarbeiters aus einem walisischen Dorf, die 1977 mit der MOR-angehauchten Mitsing-Hymne ›It’s A Heartache‹ weltweit die Charts erobert hatte. Auf der anderen ist Jim Steinman, ein Komponist und Produzent aus New York, bekannt dafür, im selben Jahr mit dem Megaseller BAT OUT OF HELL das bombastische, schweißdurchtränkte Rocktheater von Meat Loaf unter die Massen gebracht zu haben. Nach ihrem vierten Studioalbum GOODBYE TO THE ISLAND (1981) trennte sich Tyler von ihren Managern/Songwritern/Produzenten Steve Wolfe und Ronnie Scott, die auf ihre Soft-Countryrock-Ausrichtung bestanden. Tyler hatte schon immer eine von Natur aus bluesig-raue Stimme – umso mehr nach einer Operation zur Entfernung von Knötchen auf ihren Stimmbändern – und wollte an diesem Punkt ihrer Karriere eine Veränderung, „unanständigere Songs singen, Songs mit ein bisschen Energie“. Sie war beeindruckt von BAT OUT OF HELL und bat ihr Label CBS, Jim Steinman für eine Produktion und das Songwriting anzufragen. „Sie sagten: ‚Das wird er nie machen, Bonnie, es ist sehr unwahrscheinlich‘“, erzählte Tyler 2021 der BBC. „Und ich entgegnete: ‚Bitte versucht es.‘“ Steiman lehnte das Angebot zunächst ab – sein Zerwürfnis mit Meat Loaf inklusive Gerichtsverfahren hatte ihm den Wind aus den Segeln genommen –, doch nachdem er Tylers Demos gehört hatte, sagte er doch zu.
Er war mit Klassik und Oper aufgewachsen und fand, dass Tyler die passende Stimme dafür hatte. „Ich war etwas überrascht, dass sie mich fragten, aber mein zweiter Gedanke war, dass es genau deswegen eine Herausforderung war“, sagte er dem Rolling Stone. „Außerdem fand ich, dass sie eine der leidenschaftlichsten Stimmen im Rock’n’Roll seit Janis Joplin hatte.“ Die beiden trafen sich in Steinmans Penthouse am Central Park. „[Mein Manager und ich] traten aus dem Aufzug und sahen eine Spur von M&M’s, die zu seiner Tür führte … ich wusste, dass uns ein surreales Erlebnis bevorstand“, erinnerte sich Tyler 2020. Steinman lotete ihren Musikgeschmack aus, indem er ihr ›Have You Ever Seen The Rain‹ von Creedence Clearwater Revival und Ian Hunters ›Goin’ Through The Motions‹ vorspielte. Sie liebte beide und sie landeten auf dem ersten Album, das Tyler und Steinman zusammen machten: FASTER THAN THE SPEED OF NIGHT von 1983. Steinmans Wurzeln im Musical-Theater, seine Liebe zu klassischer Musik und sein Stil, der an Phil Spectors Wall Of Sound erinnerte, waren vor allem auf einem Stück hörbar, das er lange perfektioniert hatte: ›Total Eclipse Of The Heart‹. Ursprünglich ›Come In The Night‹ betitelt, hatte er es einst für das High-School-Musical „The Dream Engine“ komponiert, in dem er 1969 auch aufgetreten war. Für ein Konzept, basierend auf F.W. Murnaus Vampirfilm „Nosferatu“ von 1922, hatte er es noch mal überarbeitet. Der nachtaktive Autor hatte es während einer Mondfinsternis geschrieben, der Titel lautete nunmehr ›Vampires In Love‹ und er brauchte jemanden, der ihm gerecht werden konnte.
Später sagte er: „Bonnie hatte die perfekte Stimme für das, was ich vermitteln wollte … ihre Darbietung war wie ein Exorzismus.“ „Jim machte nie Demos – ich lernte all die Songs neben ihm am Klavier“, sagte Tyler 2020 bei „Tim’s Twitter Listening Party“. „Ich werde nie das Gefühl vergessen, als er mir zum ersten Mal ›Total Eclipse‹ vorspielte. [Sein regelmäßiger Kollaborator] Rory Dodd sang die Vocals. Ich konnte nicht fassen, dass er es mir anbot.“ Wie für alle Tracks des kommenden Albums wurden die Takes live im Studio The Power Station in New York aufgenommen. Tyler war von einem All-Star-Line-up umgeben – Keyboarder Roy Bittan und Schlagzeuger, beide von der E Street Band, griffen wieder dieselben Rollen auf wie schon für BAT OUT OF HELL, ergänzt um Gitarrist Rick Derringer und Bassist Steve Buslowe (der schon auf DEAD RINGER FOR LOVE und Steinmans eigenem BAD FOR GOOD gespielt hatte). Zu jedem Song spielten sie neun Takes an, hörten sich diese dann zu Hause an, kamen am nächsten Morgen zurück und sprachen darüber. ›Total Eclipse‹ war der zweite Take der Session, mit Overdubs von einem „Mehr ist mehr“-64-Spur-Mischpult. Tontechniker Neil Dorfsman mischte es dann zwölf Stunden lang ab. Er erinnerte sich: „Jim wollte den größten Schlagzeugsound, der je aufgenommen wurde“, doch die Fader waren schon zum Anschlag hochgefahren und „uns ging das Reverb aus“.
Der fast siebenminütige Albumtrack hatte alles: eine Orgel wie in „Phantom der Oper“, Kanonenklänge aus dem Synthesizer, einen Chor, sogar Schlittenglocken. Und das legendäre übernatürliche Video, gedreht von Popclip-Veteran Russell Mulcahy, der später mit „Highlander“ einen Kultfilm erschuf, war noch bombastischer als der Song selbst. Es gab Windmaschinen, flatternde Vorhänge und auffliegende Türen, während weiße Ninjas, Rocker, Sportschwimmer und Chorjungen mit Laserblicken den Rahmen für Tylers turmhohe Frisur und intensive operatische Gesten bildeten. Am Ende sagte Steinman zu Dorfsman: „Das wird der größte Song, den du je aufgenommen hast.“ Er sollte Recht behalten, und zwar nicht nur in Bezug auf den Klang. Auf dem Zenit seines Erfolges verkaufte sich ›Total Eclipse Of The Heart‹ 60.000 Mal am Tag, schoss in den USA wie in Großbritannien auf Platz eins und stürmte rund um den Globus die Charts. Tylers leidenschaftliche, mächtige Gesangsdarbietung war ein Triumph und sie spielt ihren größten Hit bis heute live. Auf Spotify ist die Nummer mit über 500 Millionen Streams Steinmans erfolgreichste Komposition, übertroffen nur von den 890 Millionen Klicks auf YouTube.
›Total Eclipse‹ machte Bonnie Tyler zur ultimativen Diva der Powerballaden, worauf sie enorm stolz ist – momentan lädt sie Tik-Tok-User ein, das Stück mit ihr im Duett zu singen. „Es ist ein unglaublicher Song, ich werde es nie leid, ihn zu singen“, sagte sie 2021 in Rock Cellar. „Jedes
Mal, wenn ich ihn singe, ist es wie das erste Mal. Als er erschien, hätte ich mir nie träumen lassen, dass er sich weltweit über neun Millionen Mal verkaufen würde.“