Ein Pop-Art-Album voller großartiger Musik, durchsetzt mit Werbespots und Jingles wie im Radio, verpackt in einer
legendären Hülle – Pete Townshend und Roger Daltrey
erzählen die Geschichte von THE WHO SELL OUT.
Inspiration kann viele Gestalten annehmen, doch kaum etwas beflügelt die Kreativität so sehr wie ein bedrohlich näher rücken der Abgabetermin. Man muss nur The Who fragen. Mitte September 1967 kehrten sie von einer ausgedehnten USA-Tournee zurück, eine Ochsentour, der ein brandheißer Auftritt beim ersten Monterey Pop Festival vorangegangen war, bei dem sie, ihre Instrumente zertrümmernd, das Publikum mit offenen Kinnladen zurückgelassen hatten. Zu Hause gewährte man ihnen jedoch keinerlei Pause, sondern teilte ihnen sehr bald mit, dass an Weihnachten neue Who-Musik in den Läden erwartet wurde. „Das war eine Überraschung, und zwar aus mehr als einem Grund“, sinniert Gitarrist und Chefsongwriter Pete Townshend. „Einer war, dass unsere Manager, Kit Lambert und Chris Stamp, gerade in beträchtlichem Maße von The Who abgelenkt waren, weil sie das Label Track Records leiteten, wo Marc Bolan und Jimi Hendrix unter Vertrag waren. Und es gab Verpflichtungen gegenüber Polydor, dem Mutterkonzern. Sie brauchten einfach ein Who-Album und wir hatten keines im Kasten, weil wir so hart gearbeitet hatten. Wir waren an allen möglichen Orten gewesen, unglaublich beschäftigt. Und obwohl ich viel Material hatte, fand ich nicht, dass das meiste davon sich für The Who eignete. Also dachte ich: ‚Oh Gott, wie kann ich das retten?‘ Eine riesige Panik stieg in mir auf.“
Sie hatten schon eine kleine Handvoll einzelner Songs aufgenommen, wenn sie während der seltenen Pausen auf der Tournee Zeit hatten, in diverse Studios in den USA zu gehen. ›Relax‹, ›Rael‹, ›I Can See For Miles‹. Townshend hatte auch schon die Grundgerüste weiterer, gleichsam unzusammenhängender Ideen. Aber die Lösung für das unmittelbare Problem der Band kam in Form eines genial einfachen Stilmittels, das diese Songs als ein Gesamt-Statement verbinden würde: der Werbe Jingle. Das neue Album begann, in den De Lane Lea
Studios in London Gestalt anzunehmen. The Who erschufen Werbespot-Fakes für Radio London, Premier Drums und Rotosound Strings, aufgenommen im forschen Werbesprech-Stil der Piratensender der 60er. Bassist John Entwistle kreierte die lustigen, eine Minute langen Oden an Heinz Baked Beans und Medac-Pickelcreme, Townshend brachte den Song ›Odorono‹ ein, in dem es oberflächlich um ein Deodorant ging. „Ich denke, die Idee mit den Werbespots war mir schon im Kopf herumgegeistert“, erinnert er sich. „Ich hatte schon zwei Songs für Kit Lambert für die American Cancer Society geschrieben – ›Little Billy‹ und ›Kids! Do You Want Kids?‹ –, und ich hatte ›Odorono‹ über ein Mädchen, das seinen Plattenvertrag verliert. Das war nicht als Werbespot gedacht, sondern einfach nur ein Song über Körpergeruch. Solche Sachen schrieb ich damals, völlig chaotisch. Und es kam beim Brainstorming einfach auf. Kit Lambert brachte es dann auf die Reihe und ließ die eine Hälfte des Albums klingen, als würde man einen Piratensender hören. Für mich war das die Rettung.“
Die Platte, bald als THE WHO SELL OUT betitelt, erwies sich auch als sehr passend für das Zeit geschehen. Im August 1967 hatte die britische Regierung den Marine Broadcasting Offences Act verabschiedet, der Piratensender im Vereinigten Königreich für illegal erklärte. Diese Offshore Sender waren in den Jahren zuvor
ein Rettungsanker für Popmusikfans gewesen und hatten Bands und Künstler wie auch The Who wertvolles Airplay beschert. Die BBC versuchte dann, dieses Publikum mit dem eigenen Popsender Radio 1 zu ködern, was man als ziemlich zynisch empfinden konnte. THE WHO SELL OUT war mutig und genial, sowohl ein Abschiedsgruß an eine verlorene Kunstform als auch eine satirische Betrachtung des Konsums in den 60ern. „Es war im Wesentlichen ein Tribut an diese Schiffe, die all diese wunderbare Musik ausstrahlten“, sagt Frontmann Roger Daltrey. „Wir waren die fünf Jahre davor mit Piratensendern groß geworden. Zum ersten
Mal überhaupt hatten wir DJs, diese Rebellen, die einfach so glücklich waren, die Musik zu spielen, die sie liebten. Das war wirklich etwas Besonderes. Auch wenn wir nur eine Band sind, die die ganze Musik spielt, klingt das Album genau wie eine Sendung auf einem dieser Sender mit all den Jingles. Für mich klingt es
immer noch viel besser als das Radio von heute. Es ist eines meiner Lieblings alben von The Who.“
THE WHO SELL OUT schließt sich sicherlich keinem Trend an. Psychedelisch ist es nur in den rauschenden Farben der Songs, die sich eher wie ein Zusammenfluss von Townshends Liebe zu Pop Art, englischer Barockmusik und windmühlenhaftem Rock’n’Roll anfühlen. Viele der Arrangements und Akkordstrukturen zeigen zudem ein weitaus höheres Maß an Komplexität. Das Highlight ist ›I Can See For Miles‹, ein schwelender Kracher von einem Song voller Paranoia. Im Mai 1967, während der Promotion zu ›Pictures Of Lily‹, hatte Townshend den Sound von The Who als „Power Pop“ bezeichnet. Der Begriff wurde später zum Namen eines ganzen Genres. „Ich denke, es geht darum, Popsongs zu schreiben, die etwas mehr hergeben als die üblichen Themen“, sinniert er heute. „Power Pop war einfach der Versuch, zu sagen: ‚Hört mal, Leute, in Popsongs wird es nicht mehr nur noch um dieselben Sachen wie sonst immer gehen. Sie werden Kraft und Energie haben, Farbe und Humor. Und sie werden wichtiger sein und viel betonter. Frecher, vielleicht gefährlicher‘. In gewisser Hinsicht war das Power-Pop-Ding damals, ’67, die Anerkennung, dass die Funktion des Popsongs sich verändert hatte.“ Ein weiterer Schlüsseltrack war ›Tattoo‹, dessen vage scherzhafter Text
einen tieferen Diskurs über das Konzept der Männlichkeit verbirgt. Ein Klassiker im Stil früherer Singles wie ›Pictures Of Lily‹ und ›I’m A Boy‹, die sich beide mit einem ähnlichen Thema befasst hatten. Townshend erklärt, dass Letzteres, erschienen im August 1966, zu einer Zeit kam, als „Homosexualität in Großbritannien immer noch illegal war, diese Abenteuer mussten also in Vignetten aus Humor und Ironie versteckt werden“. Was seine eigenen Vorlieben betrifft, fügt er hinzu, dass er damals wahrscheinch pansexuell war. „Ich denke, ich war bereit, mit jeder Person ins Bett zu gehen, die mich wollte.“
THE WHO SELL OUT ohne jeden Zweifel ein Meisterwerk. Es erschien am 15. Dezember 1967 und wurde umgehend mit THEIR SATANIC MAJESTIES REQUEST von den Rolling Stones verglichen, das eine Woche zuvor veröffentlicht worden war. Doch es war Lichtjahre entfernt von des sen gekünstelter Psychedelik. The Who
widersetzten sich den Erwartungen, ohne ihre Identität zu opfern. Von den Stones konnte man das nicht behaupten. Selbst die Verpackung der Who-Platte war weit überlegen. Auf dem Cover von THEIR SATANIC MAJESTIES REQUEST stierten die Stones in lächerlichen Hüten missmutig vor einem schrillen 3D-Hintergrund. The Who akzentuierten dagegen die Pop-Art-Elemente der Musik, indem sie bei Art Director David King und Designer Roger Law (die beide für die Sunday Times arbeiteten) ein Artwork in Auftrag gaben, das zur Ikone wurde. (Text: Neil Griffith, Ken Sharp)