„Es hört sich einfach nur nach sich selbst an“, meint Julian Cope über Cans Klassiker TAGO MAGO. Und trotzdem lebt der innovative Einfluss der Band bis heute weiter.
55 Jahre nach ihrem Debüt klingen Can immer noch wie keine andere Band auf diesem Planeten. Die Alben, die sie in den frühen 70ern veröffentlichten, enthalten unfassbar mysteriöse und einflussreiche Klangwelten und haben die Geschmäcker von Größen wie John Lydon, Jaz Coleman oder Primal Scream und Sonic Youth geprägt. Can wurde 1968 vom Pianisten Irmin Schmidt und Bassist und Studio-Techniker Holger Czukay gegründet.
Unverzichtbar
TAGO MAGO (United Artists, 1971)
Irmin Schmidt sagt, dass Can „immer nach einem Meisterwerk“ strebten. Mit TAGO MAGO – der Platte, von der John Lydon sagt, sie habe ihn zum Musikmachen inspiriert – setzten sie einen neuen Maßstab. Ihr drittes Album war eine Projektionsfläche okkulter Stärke, die sich über zwei LPs erstreckte – es entfesselte den Monster-Funk ›Halleluwah‹, die hinterlistigen Erschütterungen von ›Peking O‹, sowie die postapokalyptischen Knaller ›Oh Yeah‹ und ›Bring Me Coffee Or Tea‹. Das dreiteilige ›Aumgn‹ nahm eine ganze Seite ein, wobei Czukays Editier-Stil der damaligen Art des Sampelns um Jahre voraus war. TAGO MAGO startete den Countdown für die Musik des 21. Jahrhunderts.
EGE BAMYASI (United Artists; 1972)
Mit ›Spoon‹ landeten Can in Deutschland einen Top-Ten-Hit, nachdem der Song als Titelmelodie für den Fernseh-Thriller „Das Messer“ benutzt worden war. Der Erfolg bedeutete, dass sie ein altes Kino in Weilerswist mieten konnten, um ihr nächstes Album EGE BAMYASI (Okraschoten auf Türkisch) aufzunehmen. Das Studio steuerte maßgeblich zum Sound bei, man mischte barocke Schönheit (›Vitamin C‹) mit hypnotischer Ruhe (›Swing Swan Song‹) und metronomischem Future-Funk (›One Mare Night‹), auch wenn ›Soup‹ und ›Pine‹ andeuteten, dass ein spontaner Flächenbrand drohte. Bei ihren Konzerten spielte die Band zu dieser Zeit stundenlang und nutzte die Songs lediglich als Sprungbretter ins Unbekannte.
Wunderbar
MONSTER MOVIE (United Artists, 1969)
Sie hatten bereits vorher ein Album mit dem Titel PREPARE TO MEET MY PNOOM aufgenommen, das die Plattenfirmen jedoch völlig verstört hatte. Trotzdem nahmen sie selbstbewusst zwei Tracks von jenem Album und bauten das heiße ›Father Cannot Yell‹ zu einem Trance-Rock-Monster und ›Outside My Door‹ zu einer Punkversion um. Karolis Violinpart in ›Mary Mary‹ spiegelt den Einfluss der Velvets wider und taucht dann in den Funk von Czukays minimalistischem Bass. Cans Herangehensweise war eine Herausforderung für Mooney. Sein Therapeut riet ihm, sich schnellstmöglich zu verabschieden.
SOUNDTRACKS (United Artists, 1970)
Cans Debütnachfolger setzt sich aus Filmmusik zusammen und fungierte als Brücke zwischen der Mooney- und der Suzuki-Ära. Ersterer schmachtete auf ›She Brings The Rain‹ und krächzte auf ›Soul Desert‹, aber Suzuki wies den Weg nach vorn – er war Czukay aufgefallen, als er vor einem Café auf der Straße sang. Er fragte ihn, ob er beim Gig am selben Abend mitmachen wolle. Seine intensive Performance wurde auf ›Don’t Turn The Light On, Leave Me Alone‹ eingefangen. ›Mother Sky‹ ist ein Vorzeigeprojekt von Karoli, während der Soul-Hybrid ›Tango Whiskyman‹ tatsächlich eine traditionelle Liedstruktur hat.
FUTURE DAYS (United Artists, 1973)
Cans Run in den frühen 70ern ging mit FUTURE DAYS weiter. Das Album stellt einen Meilenstein innerhalb der Ambient- und Weltmusik dar, vor allem dank Liebezeits übermenschlich-maschinellem Schlagzeugspiel. Der Titeltrack schimmert, die rasenden Sound-Schnellen in ›Spray‹ zeigen die Band in vollem Glanz, während die gesamte zweite Seite den 20 Minuten von ›Bel Air‹ gewidmet ist. Auf der anderen Seite gibt es ›Moonshake‹ zu hören, Cans Version eines Popsongs. Leider folgte dem Album Suzukis Abgang: Er trat den Zeugen Jehovas bei und kehrte erst 1983 zur Musik zurück – nicht mit Can.
THE LOST TAPES (Spoon/Mute 2012)
Auf Cans früher Kompilation, der UNLIMITED EDITION von 1976, klopften sie seltene Songs ihrer ersten acht Jahre ab. THE LOST TAPES hob derlei Tun auf ein neues Niveau, da sich Schmidt und sein Schwiegersohn Jono Podmore durch Archive ackerten, die über 40 Stunden Filmmusik, Jams, Demos und sogar Aufnahmen aus Toiletten bereit hielten, alles aufgenommen zwischen 1968 und 1975. Nach monatelanger Bearbeitung brachte Podmore eine alternative Bandgeschichte ans Licht, die sich über drei CDs erstreckte. Für Fans dürfte das geisteskranke ›Streetcar‹ ein Erweckungserlebnis darstellen.
Anhörbar
SOON OVER BABALUMA (United Artists, 1974)
Cans erstes Album ohne Suzuki machte klar: Als Sänger war er nicht zu ersetzen. Also flüsterten Karoli und Schmidt selbst über die extraterrestrischen Klänge von ›Dizzy Dizzy‹, über die derangierte Polkastruktur von ›Come Sta, La Luna‹ oder das skelettöse ›Quantum Physics‹. ›Splash‹ wiederum galoppiert wie Sun Ra’s Arkestra mit Vollgas über kosmische Latino-Jazz-Motorik, bevor die Techno-Welt von ›Chain Reaction‹ mit einem funky Soul á la Booker T kollidiert. Wirklich unfassbar ist, dass Can ihre sphärische Musik immer noch auf zwei Spuren aufnahmen. Ihre letzte wirklich großartige Platte!
LANDED (Virgin, 1977)
Can verließen ihr Raumschiff, als sie LANDED bei Virgin herausbrachten. Bis heute wird es gerne als Cans Antwort auf den Glamrock gepriesen. Die aufgeweckte Herangehensweise auf ›Full Moon On The Highway‹ oder ›Hunters And Collectors‹ mag diese Beschreibung in irgendeinem Paralleluniversum unterstützen. ›Half Past One‹ erkundete seltsame lyrische Pfade. ›Unfinished‹ verfolgte die Ambient-Richtung weiter und ›Vernal Equinox‹ bewies, dass sie nicht komplett verrückt geworden waren. Ein TV-Auftritt bei „The Old Grey Whistle Test“ zeigt jedoch, wie Irmin Schmidt sein Keyboard mit Karate-Schlägen traktiert…
SAW DELIGHT (UDR, 2015)
Eine Generation von Punks hörte erstmals von Can, als John Lydon von ihnen sprach. Damals hatte sich die Band aber schon einen Disco- und Weltmusik-freundlichen Charakter verpasst. Sie stellten Bassist Rosko Gee und Perkussionist Rebop Kwaku Baah an. Das 15-minütige ›Animal Waves‹ bettet Schmidts und Karolis Sprünge unter eine perkussive Brutlampe, obwohl Liebezeit hier eher kitzelt statt angreift. Der ursprüngliche Geist verflüchtigte sich zunehmend, was man den schwachen Nachfolgern OUT OF REACH und CAN auch anhört. Erst Mooney brachte für die Reunion-Platte RITE TIME (1989) die Kauzigkeit zurück.
Sonderbar
FLOW MOTION (Virgin, 1976)
Die Alben, die Can bei Virgin aufnahmen, konnten nicht ansatzweise gegen ihre früheren Werke anstinken. FLOW MOTION ist vielleicht ihre unwichtigste Platte. Schockierend eingängige Lieder wie ›Babylonian Pearl‹ oder ›Laugh Till You Cry, Live Till You Die‹ klingen nach einer Band, die sich freimütig dem Mainstream zuwendet, dabei aber immerhin über sich lachen kann. Ein Highlight ist zweifellos ›I Want More‹, dessen lebhaftes Disco-Glucksen den Track immerhin in die Top 30 der UK-Charts brachte und deshalb bei „Top Of The Pops“ vorgestellt wurde. Klar ist das Album immer noch einzigartig, aber weit entfernt vom Zenit.